Josephine Händel – Hockstecksprung (Buch)

Der Roman Hockstecksprung von Josephine Händel lässt sich öffnen wie eine Schachtel, die in sich eine weitere Schachtel birgt. Diese wartet mit einer weiteren auf und so ist jedes Kapitel, das dem Lesenden begegnet auch mit einer kleinen Überraschung verbunden. Es schwingt stets die Frage mit, ob man es zum letzten Päckchen geschafft hat, das die beiden Protagonistinnen mit sich herumtragen, denn davon gibt es einige.

Eigentlich befand sich Hella bis vor kurzem noch mitten in ihrem Psychologie-Studium, doch nun steht sie an der Theke der Fleischerei ihrer Eltern mitten in einem Dorf im Nirgendwo in Sachsen- Anhalt und weiß nicht so recht, wie es mit ihr weitergehen soll. Als sie ein Paket erhält, das von ihrer Freundin Friedemarie stammt und ein Manuskript enthält, dass nicht weniger als die eindringliche Schilderung der Lebensrealität ihrer Freundin enthält, wird sie nicht nur mit der unbändigen Energie und dem fulminanten Kopf-Chaos ihrer Freundin konfrontiert, sondern ist auch gezwungen sich mit ihrer eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen, denn auch von dieser weiß Friedemarie durch ihre Aufzeichnungen zu berichten.

Händel beschreibt in Hockstecksprung die Persönlichkeit zweier Frauen, die unterschiedlicher nicht sein können. Sie lässt ihre zwei Figuren auf verschiedenen Ebenen miteinander und übereinander kommunizieren. Nur in der Gegenwart lässt die Autorin die zwei Charaktere nicht wirklich aufeinandertreffen. Die Gespräche zwischen den Freundinnen finden stets in der Vergangenheit statt und werden von beiden zu unterschiedlicher Zeit rezipiert. Bei Hella geschieht dies, indem sie Friedemaries Werk liest und bei Friedemarie durch die Beschreibung in ihrem Manuskript, wenn sie sich die Aufnahmen anhört, die die angehende Psychologin Hella, mit ihr durchführt. Diese Aufnahmen nimmt sie stets zur Hand, wenn es ihr zu viel wird und der Eskapismus nicht nur örtlich, sondern auch in ihrem Kopf zu einem dringenden Bedürfnis wird. Dadurch greifen abwechselnd mehrere Rahmenhandlungen ineinander, was durch die kurz angelegten und rasant erzählten Kapitel nachvollziehbar und spannend bleibt. Nur das Verhältnis der geschilderten Lebensrealitäten wirft Fragen auf. In mehr als zwei Drittel der gut 460 Seiten widmet sich Händel sehr detailliert dem Innenleben und Werk von Friedemarie, was sich dadurch äußert, das  man es durch die Augen von Hella liest. In ihrem Manuskript beschreibt Friedemarie die Suche nach der Geliebten ihres verstorbenen Vaters. Diese Suche führt sie quer durch Deutschland. Fast immer mittelos, aber mit ihrem Papagei Janis auf der Schulter trifft sie auf die unterschiedlichsten Menschen, spielt in einem Unterwasser-Porno mit, baut als vermeidliche Gesellin ein Haus und lässt sich im Wald von einem Hippie ein wärmendes Fell über die Schultern legen. Diese Szenerien werden immer von den Aufnahmen unterbrochen, die sie in Form ihres MP3-Players zur Hand nimmt, um ihren Sitzungen mit Hella zu lauschen. Diese Takes werden als eigenständige Kapitel dargestellt, in welchen auch der psychologische Background Händels ersichtlich wird, da sie in diesen manch psychologische These und Vermutung von Hella nicht nur diagnostizieren, sondern auch erklären lässt. Diese Kapitel stehen, auch wenn es zu Diskussionen zwischen den beiden Frauen kommt, in einem klaren Kontrast zu dem Roadtrip, den  Friede in ihrer Erzählung durchlebt und man kann verstehen warum sie in den für sie heiklen Situationen zu ihrem Stückchen Therapie greift, das sie in MP3 – Format dabei hat. Mit jeder Station und jeder Aufnahme wird die Psyche Friedemaries mehr beleuchtet und ausgewertet.

Das Innenleben von Hella bleibt dabei eher rätselhaft. Ob das so gewollt ist und Händel der Figur der Hella eher die Rolle der Beobachterin und Zuhörerin zugedacht hat, weil das nunmal auch ihr Job als Psychologin ist, wird nicht ganz klar, was beim Lesen zwar auffällt, aber sich nicht auf den Spannungsbogen auswirkt, den die Autorin stets zu halten weiß. So lässt sich nur vermuten, dass die eingangs erwähnten Päckchen, die Hella mit sich herumträgt, nicht ganz so zahlreich sind, wie die von Friedemarie und daher der Fokus auch hier eher auf deren Erzählung liegt.

Hockstecksprung ist ein Buch, das taktvoll und kontrastiert die psychologische Vielfalt unterschiedlicher Persönlichkeiten aufgreift und diese beschreibt. Zeitweise überschlagen sich die Gedanken ihrer Figuren so sehr, dass man gezwungen ist innezuhalten, um erst einmal selbst einzuordnen, was gerade passiert ist. Man merkt Händel die Liebe zu ihren Charakteren und die Leidenschaft an, die sie in den Aufbau, sowie die Ausgestaltung der Stationen, an denen sich vor allem Friedemarie wiederfindet, gesteckt hat. Empathisch ist zudem, dass sie dem Werk, aufgrund der Sensibilität des Themas eine Triggerwarnung, sowie einige Tipps zur Selbsthilfe bei psychischen Problemen und ein Glossar zur Klärung einiger abstrakter Begriffe beigefügt hat.

Wer Lust auf einen psychoanalytischen Roadtrip hat und mit der an manchen Stellen verschachtelten Handlung umzugehen weiß, wird an Hockstecksprung seine Freude haben, denn die Schachteln zu öffnen und mutig einen Blick hinein zu wagen lohnt sich.

 


Wertung: 12/15 dpt

 

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