Ein Mädchen verschwindet, Fassaden bröckeln und stürzen ein
Durton ist eine verschlafene Kleinstadt im Hinterland Australiens. Esther Bianchi und Veronica „Ronnie“ Thompson, beide zwölf Jahre jung, und Lewis Kennard (11) sind Schulfreunde, zwischen Esther und Ronnie passt sprichwörtlich kein Blatt. Am 30. November 2001, einem Freitag, soll sich für die drei Kinder, deren Familien und weitere Personen jedoch alles ändern. Esther und Ronnie gehen wie immer von der Schule gemeinsam heim, aber nur Ronnie erreicht ihr Elternhaus. Stunden später beginnt eine großangelegte Suche und Officer Mack Macintyre erhält umgehend Unterstützung von DS Sarah Michaels und DC Wayne Smith aus Sydney, zwei Experten, wenn es um vermisste Kinder geht.
Esthers Vater Steven behauptet, seine Tochter am fraglichen Nachmittag nicht gesehen zu haben, aber wie kommt dann ein Schuh von Esther in sein Auto, von dem seine Frau Constance sicher ist, dass ihre Tochter diesen am Morgen angezogen hatte? Bei der Befragung wird Steven gegenüber der Polizei gewalttätig und festgenommen. Kann es so einfach gewesen sein? Aber vor allem: Wo ist Esther?
Wenig später entdecken Taucher in einem städtischen Speichersee ein an einer Boje befestigtes Päckchen, welches Drogen enthält. Sollte das vermisste Mädchen unbeabsichtigt örtlichen Drogenhändlern in die Quere gekommen sein? Vier Tage nach ihrem Verschwinden wird Esthers Leiche gefunden. Derweil überschlagen sich die Ereignisse in Dirt Town, wie Durton wenig liebevoll genannt wird.
Beeindruckendes Debüt
Hayley Scrivenor legt mit „Dinge, die wir brennen sahen“ einen beeindruckenden Debütroman vor, welcher oberflächlich auf bekannten Versatzstücken basiert. Ein Mädchen verschwindet, ihre beste Freundin sagt womöglich nicht die Wahrheit und schnell gerät der eigene Vater in Verdacht. Ganz so einfach ist es selbstredend nicht, andernfalls wäre der Roman nicht in der TopTen der Krimibestenliste April 2023 gelandet.
Überzeugend ist vor allem die Konstruktion des Plots. Der Leser erfährt aus verschiedenen Perspektiven, was sich ereignete und vor allem, wie es einzelne Beteiligte erlebt haben. Die Erzählstränge rücken Ronnie, Lewis, Sarah, Constance und „Wir“ in den Mittelpunkt. „Wir“ sind nicht näher benannte Kinder aus Durton und interessanterweise wird in der dritten Person erzählt. Nur Ronnie, die beste Freundin, erzählt als Ich-Erzählerin. Dabei gilt besondere Aufmerksamkeit auch der zeitlichen Abfolge, denn die Kapitel sind nicht immer chronologisch.
Scrivenor beschreibt vor allem die Familien von Esther, Ronnie und Lewis, die sich hinter der Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit verstecken, wobei diese mit jeder weiteren Buchseite bedenklich ins Wanken geraten bevor sie endgültig einstürzen. Jede und jeder hat seine Geheimnisse und dunklen Seiten, was natürlich auch für Ronnie und vor allem Lewis gilt. Aber wie sollen elf- und zwölfjährige immer wissen, was richtig und falsch ist? Wie mit ihren Gefühlen klarkommen, wenn dies selbst den Erwachsenen kaum gelingt. Abgründe öffnen sich, weitere dunkle Geheimnisse aus „Dirt Town“, wie der Roman im Original heißt, werden teils beiläufig aufgedeckt, was nur zu weiteren Komplikationen führt. Selbst die Ermittlerin Sarah ist nicht frei von dunklen Flecken auf ihrer Weste und schießt sich, einer gescheiterten Liebesbeziehung hinterhertrauernd, allzu schnell auf erstbeste Verdächtige ein.
Wie die einzelnen Kapitel ineinander übergreifen ist großes Kino, ebensolche Cliffhanger sorgen für zusätzlichen Nervenkitzel. Grobe Gewaltexzesse sucht man erfreulicherweise vergebens, Scrivenor setzt allein auf psychische Effekte. Die Geschichte geht ans Herz, große Schäden werden angerichtet, nicht selten unbeabsichtigt. Wer den furiosen Roman „Von hier bis zum Anfang“ von Chris Whitaker mochte, sollte unbedingt zugreifen.
- Autorin: Hayley Scrivenor
- Titel: Dinge, die wir brennen sahen
- Originaltitel: Dirt Town. Aus dem Englischen von Andrea O‘Brien
- Verlag: Eichborn
- Umfang: 368 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: März 2023
- ISBN: 978-3-8479-0115-0
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Wertung: 13/15 dpt