Der Literaturpodcast „Autorinnen im Porträt“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, in jeder Episode eine Schriftstellerin in den Fokus zu rücken. Dabei schauen wir auf das Leben der Autorin und auf ihr Werk. Wer wir sind? Mariann Gáborfi und Sarah Teicher aus Leipzig. Wer mehr über die Entstehung des Podcasts erfahren möchte, schaut am besten noch einmal in die erste Folge der Kolumne: Autorinnen im Porträt und der Begriff der Frauenliteratur
Da wir ebenfalls Redakteurinnen bei Booknerds.de sind, haben wir beschlossen, zu dem im März 2022 gegründeten Podcast eine begleitende Kolumne zu schreiben. In diesem Teil der Kolumne nimmt euch Mariann mit in den fernen Osten.
Auf den ersten Seiten des Buches „Die Ladenhüterin“ setzt sich die Erfolgsautorin Sayaka Murata mit den Gerüchen und den Farben auseinander, die ihre Protagonistin, während ihrer Arbeit in einem Kombini wahrnimmt. Diese nuancierte Beschreibung der Gerüche stammen aus der Erfahrungswelt der japanischen Autorin, die 2016 mit genau diesem Roman ihren weltweiten Durchbruch feierte. Grazil und leichtfüßig schafft es Murata aus dem Kombini heraus einen Blick auf die japanische Gesellschaft zu werfen, während sie sich dabei immer mehr einem Abgrund nähert, der nicht nur ihre Protagonistinnen zu verschlingen droht. Auch beim Lesen bewegt man sich Seite für Seite vorwärts und steigt hinab in diese düstere Gedankenwelt, die kein gutes Haar an den Konventionen der japanischen Gesellschaft lässt. Murata lässt ihre Protagonistinnen auf diese Öffentlichkeit treffen und gnadenlos abprallen. Diese Gnadenlosigkeit spiegelt sich bei „Die Ladenhüterin“ in der ironischen Sprache der Hauptfigur mit Namen Keiko wider, die sogar zeitweise für Belustigung beim Lesen sorgt und wird von einer Mischung aus Lethargie und Egalität, die Keiko ihrem Umfeld entgegenbringt, unterstrichen. Diese Kälte steht im kompletten Kontrast zu der unbändigen Leidenschaft und dem Glück, die Keiko für ihre Arbeit empfindet, die von der Gesellschaft jedoch als geringwertig empfunden und auch so kommentiert wird. Für ihre Familie steht es außer Frage, dass sie nur dann als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zählt, wenn sie einen Mann heiratet, der sie finanziell absichert und sie Kinder bekommt, um ihre Funktionsfähigkeit und ihren Wert klar zum Ausdruck zu bringen.
- Hier geht es zur Rezension von “Die Ladenhüterin”
- Hier geht es zur Rezension von “Das Seidenraupenzimmer”
Auch in ihrem Werk „Das Seidenraupenzimmer“ legt die in Chiba geborene Autorin ihre Hauptfigur mit Namen Natsuki als Außenseiterin an. Hier spart sich die Autorin jedoch den feinen Humor, der bei „Die Ladenhüterin“ stets mitschwingt und geht gleich zum Frontalangriff über. Dieser äußert sich in den Gewalterfahrungen die Natsuki bereits in der Kindheit aufs brutalste widerfahren und die sie früh zwingen, sich in einen Kokon zurückzuziehen, der aus einer weit entfernten Galaxie besteht. In dieser flieht sie auf ihren eigenen geheimen Planeten und beginnt so ihren eignen zutiefst verstörenden Weg zu pflastern, dem sie bis ins Erwachsenenalter folgt. Wie schon Keiko, wird auch Natsuki vorgeworfen, sich nicht richtig in die Familie und die Gesellschaft einzugliedern, welche die Protagonistin als „Fabrik“ bezeichnet mit samt ihren Nistkästen und Werkzeugen, wie sie die Menschen nennt. Diese Bezeichnungen, wie auch die Beschreibung der immerwährenden Überwachung durch das Umfeld, lassen nicht selten Parallelen zu Huxleys „Brave New World“ oder auch Orwells Roman „1984“ erkennen.
Durch den Verzicht beider Heldinnen sich den geltenden klassischen Werten der japanischen Gesellschaft zu unterwerfen und beispielsweise Kinder zu „produzieren“, spricht Murata aktuelle Themen, wie das sogenannte Zölibat-Syndrom an, das die Entscheidung zu einem Leben ohne Sexualität und Partnerschaft thematisiert und welches in der japanischen Gesellschaft gerade in der jungen Generation seinen Ausdruck findet. Ihre Figuren sind in ihrem Verhalten und ihrem Charakter radikal und erleben sich als Gegenpol zur Mehrheit der Gesellschaft, was sie zu Außenseiterinnen und Sonderlingen macht. Zudem wählt sie Frauen als Hauptfiguren, die aus ihrer althergebrachten Rolle fallen und welche aber wissen aufzustehen und die fest entschlossen sind ihren eigenen Weg zu gehen, auch wenn das bedeutet, das dieser sie in einen Abgrund führt.
Sayaka Murata ist eine Autorin, die poetisch und doch ganz klar die Probleme des japanischen Kollektivs anspricht. Durch die psychologisch eindringliche Bildsprache, sowie die Abgründe, die sie aufzeigt und in die sie ihre Figuren immer wieder stürzen lässt, entwickelt ihr Ausdruck eine eigene Dynamik, die aufrüttelt, mitreißt und nachwirkt.
Freut euch im Mai auf die nächste Kolumne von Sarah und lasst euch überraschen welche unserer Autorinnen sie genauer unter die Lupe nehmen wird!