Toine Heijmans – Der unendliche Gipfel (Buch)


Ein großes Buch über große Dinge

Toine Heijmans beginnt mit dem Ende. Oder vielmehr mit dem höchsten Punkt, dem Gipfel, den sein Protagonist am Ende einer langen Bergsteigerkarriere erreicht.

„Ich bin auf dem Gipfel angekommen, und hier ist nichts. (…) Hier oben zu sein hat keine Bedeutung – das zu begreifen, ist das Schwierigste.“ (Seite 9)

Der Roman startet also mit einem Rückblick. Walter Welzenbach, der Ich-Erzähler, erinnert die wichtigsten Etappen seines Lebens.

Alles beginnt für Walter mit der Freundschaft zu Lenny. Zwei junge Männer, die sich mit Haut und Haar dem Klettern verschreiben. Der etwas ältere und erfahrenere Freund Lenny wird für Walter zum Mentor und Lebenspartner. Eine perfekte Symbiose entsteht. 

„Lenny stieg vor, immer, ich war die Nachhut. So waren wir aneinandergebunden: Er am einen Ende des Seils, ich am anderen, eingespielt auf die Bewegungen und Launen des anderen.“ (Seite 38)

Heijmans lässt uns teilhaben am Werdegang der beiden Freunde, die sich aus Begeisterung in das Abenteuer ihres Lebens stürzen. Jahre des Glücks folgen. Das Bergsteigen wird zur Profession, eine Karriere nimmt ihren Anfang.

Doch während Lenny im Laufe der Jahre seine Prioritäten neu justiert, sesshaft wird, eine Familie gründet und einen bürgerlichen Job annimmt, bleibt Walter zurück. Walter ist nicht für dieses „normale“ Leben gemacht. Fortan klettert er allein. Der Verlust des Gefährten schmerzt tief und besiegelt seine Einsamkeit.

„Für reine Freiheit, die reinste, muss man immer bezahlen.“ (Seite 147)

Der Roman ist mitreißend erzählt. Ganz im Stile großer Abenteuerromane lässt der Autor seine Leser:innen mitfiebern bei jeder einzelnen Expedition, die Walter unternimmt. Mit nie versiegendem Wortschatzreichtum füttert Heijmans seine unzähligen Naturbeschreibungen. Die Berge sind bei ihm mehr als eine statische Kulisse. Landschaft, Witterung und körperliche Anstrengung verschmelzen zu einem sinnlichen Gesamtbild. Walter lebt sein Bergsteigertum mit jeder Faser seines Körpers und genau dieses Empfinden transportiert Heijmans durch seinen großartigen Text.

Unterbrochen wird die Chronologie der Handlung regelmäßig durch historische Einschübe. So entsteht quasi nebenbei eine ausführliche Geschichte des Bergsteigens. Berühmte Namen und Ereignisse finden Eingang. Schwindelerregende Pionierleistungen und tragische Niederlagen gehen Hand in Hand. Walter selbst sieht sich als Teil dieser Tradition, die gipfelstürmende Männer und Frauen vor ihm geprägt haben. Ihnen fühlt er sich verbunden, denn auch sie standen abseits von der übrigen Gesellschaft. Menschen, die die Natur herausforderten und von ihr in die Schranken gewiesen wurden. Menschen, die das Extreme suchten, um sich selbst zu finden.

Doch die Zeit bleibt nicht stehen. Heijmans beschreibt den sogar im Himalaja um sich greifenden Massen-Tourismus, dem Walter in achttausend Metern begegnet. Er zeigt, wie Social Media den Blick der Menschen auf die Welt verfälscht, wie uns der Respekt vor der Natur abhandenkommt und das Besondere unaufhaltsam entwertet wird. Auch dem Klimawandel widmet er kritische Worte, dieser zeichnet in der Bergwelt deutliche Spuren. Walter spürt immer mehr, dass er längst zum lebendigen Anachronismus geworden ist.

„Nach der Erstbesteigung des Everest dauerte es vier Tage, bis die Nachricht ihren Weg in den Rest der Welt gefunden hatte. Das wertete die Leistung auf. Vom Gipfel live senden, dachte ich, wertet die Leistung ab.“ (Seite 100)

Mit Walter präsentiert uns Heijmans eine Figur, die geprägt ist durch ihre lebenslange Passion. Eine Passion, die für ihn stärker ist als alles andere im Leben. Stärker als jede Vernunft oder Liebe. Eine Passion, der Walter alles andere konsequent unterordnet. Die für ihn Lebensinhalt und Lebenszweck zugleich bedeutet. Von der er sich nie wird lösen können und die ihn am Ende einsam zurück lässt. Sie ist sein unendlicher Gipfel. Sie ist am Ende die eine große Leidenschaft, die er nie wird stillen können.

Heijmans hat mit „Der unendliche Gipfel“ einen packenden Pageturner geschrieben. Er kombiniert die Biografie seiner Hauptfigur, eines Ausnahmesportlers, mit essentiellen Fragen des Lebens. Der Roman ist zugleich Beziehungsgeschichte, Abenteuerroman und Gesellschaftskritik. Es geht um die Geschichte des Alpinismus, um Klimakrise und Umweltprobleme. Heijmans hält alle diese gewichtigen Themen im fließenden Gleichgewicht.

Er verpackt die Resignation des Ich-Erzählers in gradlinige Sätze. Die Schönheit seiner Prosa ist rücksichtslos, Sätze wie in Stein gemeißelt, nicht darauf ausgerichtet Illusionen zu erzeugen, sondern das Gegenteil.

Es gibt wenige Bücher, die ich mehr als einmal lesen möchte. Dieser Roman gehört definitiv dazu.

  • Autor:  Toine Heijmans
  • Titel:  Der unendliche Gipfel
  • Originaltitel: Zuurstofschuld
  • Übersetzerin: Ruth Löbner
  • Verlag:  mairisch Verlag
  • Erschienen:  März 2023
  • Einband:  Gebundene Ausgabe
  • Seiten:  352 Seiten
  • ISBN:  978-3948722258


Wertung: 15/15 dpt


6 Kommentare
  1. Hallo liebe Booknerds,
    Ich interpretiere das Ende völlig anders. Auch ich habe eben das Buch zu Ende gelesen und war etwas ratlos vor dem Schluss gestanden. Mit dem Hinweis auf den Anfang erklärt sich aber m.E. auch der Schluss. Das Buch beginnt auf 8188 m und endet auf weißen Seiten in 7620 m Höhe. Geht man zum 3. Kapitel zurück, findet man Monk und Walter auf 7620 m. „Monk verschwindet, und ich gehe weiter.“ Und dann kommt: „Zwei Schlucke nehme ich aus der roten Thermosflasche“ Diese hat Walter kurz vor dem Gipfelsturm im Zelt mit Pentobarbital versetzt, ein Mittel, das noch heute zum Einschläfern von Tieren bzw. auch für medizinisch induzierten Suizid eingesetzt wird. D.h. meiner Meinung nach hat sich Walter nach seinem letzten Gipfelsieg das Leben genommen

    1. Hallo, liebe Christine,
      vielen Dank für deine spannende Ergänzung. Nun habe ich das Buch erneut in die Hand genommen, um deinen Worten zu folgen. Deine Interpretation finde ich absolut schlüssig. Der Hinweis auf die Einnahme des Pentabarbitals ist sehr hilfreich. So entsteht eine gut nachvollziehbare Erklärung für die letzten „leeren“ Seiten.
      Ich persönlich hatte den Tod des Protagonisten zwar für möglich gehalten (und für stimmig, da der Autor alles auf den versöhnlichen Abschied hinauslaufen lässt), aber diese Deutung eher als Vermutung abgehakt, da mir das wesentliche Indiz fehlte. Für mich war die Einnahme dieses Stoffes Pentabarbital nur dazu da, um Schmerzen zu lindern.
      Die booknerds sagen Danke. Wir freuen uns sehr über den Austausch auf unserer Seite. Und fürs Lesen. Gerne wieder!

  2. Habe das Buch soeben fertig gelesen und bin unschlüssig wie ich die letzten Seiten interpretieren soll. Wie würden Sie das Ende des Buches erklären? Ich freue mich auch über eine Antwort per Mail, damit wir hier in den Kommentaren für die weiteren LeserInnen nichts vorweg nehmen. Ein wirklich ausgezeichnetes und spannendes Buch!

    Dank für die Antwort!

    Liebe Grüße
    Florian

    1. Hallo Florian,
      danke für das Interesse an unseren booknerds-Rezensionen.
      Den angesprochenen Roman “Der unendliche Gipfel” habe ich mit ebenso großer Freude gelesen wie rezensiert.
      Da ich diesem großartigen Titel möglichst viele begeisterte Leser:innen wünsche, freue ich mich besonders über das persönliche Feedback.

      Mit dem Interpretieren ist das ja immer so eine Sache. Jeder von uns liest ein Buch auf seine eigene ganz persönliche Weise. Daher möchte ich mit einigen sehr persönlichen Gedanken antworten.

      (Und an alle Mitlesenden sei hier einfach ein Spoiler- Hinweis platziert – also das Lesen passiert ab jetzt auf eigene Gefahr.)

      Es ist interessant, dass Sie gerade das Ende des Romans ansprechen. Genau diese Szene hat mich sehr berührt und mir gezeigt, wie virtuos Heijmans seinen Roman zu Ende bringt.
      Denn eigentlich nimmt der Autor diese Schlussszene ja bereits mit der Eingangsszene vorweg. Der Roman beginnt in 8188 m Höhe und endet auch dort. Der ganze Roman ist wie ein riesiger Kreis, der sich am Ende schließt.
      Der für mich einprägsamste Satz zu Beginn war:
      „Ich bin auf dem Gipfel angekommen, und hier ist nichts. (…) Hier oben zu sein hat keine Bedeutung – das zu begreifen, ist das Schwierigste.“ (Seite 9)
      Für Walter ist es der letzte Gipfel. Er befindet sich an einem Punkt, an dem er zurückblickt und bewertet. Ein Punkt, an dem er seine ganz persönliche Sinnfrage klären wird.
      Den ganzen Roman über geht es vor allem um seine Freundschaft mit Lenny. Lenny war sein Mentor, der beste Freund, die wichtigste Bezugsperson in seinem Leben. Lenny war derjenige, der ihn zum Klettern brachte und der ihm immer vorausgegangen ist. Walter leidet unter der Trennung. Das Alleingehen fällt ihm schwer. Lenny ist immer präsent in seinem Kopf. Auch – oder besonders – bei diesem letzen Aufstieg.

      Und nun kommt der letzte Aufstieg. Walter erreicht seinen letzten Gipfel. Er will ihn allein gehen. Doch unerwartet hat sich ihm mit Monk ein Begleiter angeschlossen. Jemand, von dem man ausgeht, dass er ihn überholen wird. Eine jüngere Version seiner selbst. Die nächste Generation. Walter will diesen Begleiter anfangs nicht. Jemand, der ihm aufweist, dass seine Zeit gekommen ist.

      Man zweifelt zwischendurch sogar, ob Walter es schaffen kann.
      Aber dann ist es Walter, der den Gipfel nicht nur erreicht, sondern er ist es, der voran geht.

      Man kann sagen, er löst sich von Lenny. Er kann Abschied nehmen. Er kann endlich seinen Weg ganz allein weitergehen.
      Den letzten Satz des Romans habe ich als ein sehr versöhnliches Statement gelesen:
      „Es war ein schöner Tag, um oben auf meinem letzten Berg zu stehen, mit allem, was ich bei mir trug, die Schultern beladen mit Ereignissen.“

      Das sind meine Gedanken zu diesem Ende.
      Vielen Dank für das Interesse und die Gelegenheit, das Buch heute noch einmal in die Hand zu nehmen und den Anfang und das Ende erneut zu lesen. Es ist wirklich ein wundervoller Roman!

      1. Vielen vielen Dank für die ausführliche Antwort und tolle Interpretation!!! Vor allem, dass Sie das Ende und den Anfang nochmal erwähnt haben. Das wäre mir nicht aufgefallen.

        Ich kann nicht genau sagen warum mir dieser Roman so außerordentlich gut gefallen hat. Ich kenne weder den Autor noch bin ich an Bergsteiger-Literatur interessiert. Dieses Buch hat mich aber von Anfang an so gefesselt und begeistert, dass ich wirklich jedem und jeder empfehle es zu lesen!

        Freue mich durch Zufall auf der booknerds Seite gelandet zu sein und werde auch weiterhin auf dieser Seite nach neuen Romanen und Rezensionen stöbern.

        Liebe Grüße
        Florian

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