Bones and All (Film)


© Bones and All

Mögt ihr Horror?

Mögt ihr das Blut, den Gore, den Ekel, das Unnatürliche, die Anspannung, die immer weiter zunimmt, bis das Monster auftaucht, um sich seine Opfer unter den Nagel zu reißen? Fühlt ihr Angstlust dabei, während  Unschuldige nacheinander zerfleischt werden und ihr eingekuschelt auf eurem Sofa sitzt?

Horror ist aber nicht gleich Horror – mit immer weiter zunehmenden technischen Entwicklungen ist das gruselige und blutige Genre immer kreativer, ausgefallener und sogar absurder geworden. Cosmic Horror (oder auch Lovecraftian Horror, bei dem es um die Angst vor dem nicht verstehbaren und Unbekannten geht – wie eben in den Romanen des Namengebers H. P. Lovecraft), Body Horror (ein Genre, bei dem es um die Angst vor radikaler und destruktiver Veränderungen des menschlichen Körpers geht) oder Okkult-Horror, bei dem das Böse durch übernatürliche Kräfte beschworen worden ist, sind nur einige Beispiele für das sich immer weiter entwickelnde Genre.

Trotzdem gibt es bestimmte Genre-Regeln, mit denen keiner so richtig brechen möchte.

Es gibt eine*n Protagonist*in, die durch übernatürliche und unerklärbare Begebenheiten oder schlichtweg durch die Bösartigkeit eines Antagonisten bedroht wird – darunter Hexen, Geister, verfluchte Häuser oder geisteskranke Irre. Alltägliche Normen und Werte werden auf den Kopf gestellt, überspitzt, brechen mit unserem alltäglichen Rationalismus und offenbaren die dunklen Stellen der menschlichen Natur. “Bones and All” scheint deswegen auf den ersten Blick ein klassischer Horrorfilm zu sein – bis wir genauer hinsehen und erkennen, dass “Bones and All” alles auf den Kopf stellt, was wir bis dahin in uns gut bekannten Genre als selbstverständlich genommen haben.

“Bones and All” ist ein romantisches Horror-Drama von Luca Guadagnino, das im November 2022 in die deutschen Kinos kam. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Jugendbuch von Camille DeAngelis. “Bones and All” zeigt dabei die Auswirkungen von Kapitalismus auf, zieht Vergleiche zu Drogensucht und thematisiert, wie wir mit dem Generationen übergreifenden Erbe unserer Familie umgehen, während der Film auch gleichzeitig zeigt, wie intensiv Liebe sein kann – gerade für Außenseiter.

Maren Yearly ist eine Teenagerin, die seitdem sie klein ist, nachts in ihrem Zimmer eingesperrt schlafen muss und durch ihren Vater von Gleichaltrigen ferngehalten wird. Was zunächst befremdlich wirkt, wird direkt am Anfang notwendig: Als Maren sich aus ihrem Zimmer schleicht, um bei einer Übernachtungsparty mitzumachen, beißt sie ihrer Freundin in einem intimen Moment den Finger ab.

Das ist nicht das erste Mal, dass Maren Menschen isst, die ihr viel bedeuten – beim ersten Mal war sie noch ein Kleinkind, ehe sie ihre Babysitterin tötete und aß. Maren lernte nie, sich zu kontrollieren – vieles verdrängte sie sogar! – , weswegen sie mit ihrem Vater ständig auf der Flucht war, in der Hoffnung, Marens Verhalten hinter sich zu lassen.

Als Maren 18 wird, verlässt ihr Vater sie mit etwas Bargeld  und einer Audiokassette, in dem er Marens Kannibalismusvorfälle und seine Verzweiflung schildert sowie dem Hinweis, wo sie ihre Mutter finden könnte, die sie nie kennengelernt hat, in der Hoffnung, dass Marens Mutter ihr besser helfen könnte, sich selbst besser zu verstehen.

Auf der Suche nach ihrer Mutter trifft Maren auf weitere “Eater” – Menschen, die ebenfalls andere Menschen essen. Einer dieser Eater ist Lee, der ebenfalls obdachlos versucht zu überleben.

Der Film hat mich aus vielen Gründen begeistert: Unterschiedliche Genres (von denen ich nie dachte, dass sie gemischt werden könnten!) wurden miteinander verbunden und mit ihren Genre-Regeln gespielt. Zu diesen Genres gehört nicht nur Horror, oder Teenager Love- und Coming of Age Stories, aber auch der klassische Road Trip. 

Marens Suche erinnerte mich an eigene Wünsche und Gefühle, denen ich nie Raum geben konnte und wurde durch eine wunderschöne Cinematographie und Playlist verbildlicht, die dem ganzen Film ein nostalgisches Gefühl gab. Dass der Film in den 1980er Jahren in Amerika spielt – zu einer Zeit, in der alles möglich schien – unterstreicht dieses Gefühl.

Der dargestellte Kannibalismus hat mir viel interessanten Spielraum für mögliche Interpretationen geboten – je nachdem, mit welcher Brille ich ihn betrachten möchte.

Auf Marens Reise nach Antworten, wieso sie die Menschen frisst, die sie liebt, werden wir mit unterschiedlichen Themen konfrontiert: Der Suche nach Zugehörigkeit, Zukunftslosigkeit der Jugend, Abhängigkeit, Liebe, Kapitalismus und mit der Frage, wie wir mit dem umgehen, was wir von unserer Familie erben.

Verdeutlicht (und auf die Spitze getrieben) werden diese Themen durch den Kannibalismus.

Der Kannibalismus zeigt sich nämlich auf unterschiedliche Varianten mit unterschiedlichen Nuancen: Wir haben Eater, die über Kilometer hinweg Sterbende riechen können. Es gibt Eater, die aus Spaß Menschen essen, und andere, die sich vor Selbsthass selbst töten. Die Eater sind aber in einer Hinsicht alle gleich: Sie sind einsam und müssen sich von Menschen ernähren, um zu überleben.

Kannibalismus als Thema (oder als Ästhetik) ist dabei kein neuer Trend. Kannibalismus wird in Medien dann öfters dafür verwendet, Gesellschafts- und Kapitalismuskritik zu üben (beispielsweise der Film “Soylent Green” von 1973, in dem es darum geht, dass Menschen zu einem Nahrungsergänzungsmittel verarbeitet werden, um die steigenden Nachfrage an Nahrung zu decken) oder wie in “Bones and All” um intensive Gefühle zu vermitteln – hattet ihr noch nie jemanden zu Fressen gern?  

Während Maren ihre Lieben frisst, handelt es sich bei Eatern insgesamt um Menschen, die durch ihre Andersartigkeit mittellos sind und gezwungenermaßen ein Nomadenleben führen müssen. Keiner von ihnen kann durch ihr Verlangen länger an einem Ort bleiben und sich ein Leben oder Rücklagen aufbauen. Dass Maren schwarz ist, spielt dabei keine kleine Rolle – auch, dass viele Eater aus ärmeren Verhältnissen oder schwierigen Familiensituationen stammen, ist nicht unbedeutend.

Marens und Lees Kannibalismus hat mich aber auch stellenweise an “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” von Christiane Felscherinow erinnert – einem Buch, in dem es um die Drogensucht der Berliner Jugend der 1980er Jahre geht, für die sich die Kinder sogar prostituieren mussten, um ihre Sucht befriedigen zu können. 

Lee und Maren haben ebenfalls stellenweise Menschen durch sexuelle Dienstleistungen angelockt, um sie anschließend essen zu können – das ging soweit, dass sie richtige Strategien entwickelt haben. Genauso wie die Figuren in “Wir Kinder von Bahnhof Zoo” waren Maren und Lee auf sich allein gestellt, ohne wirkliche Unterstützung ihrer Familie und auf der ziellosen Suche nach Sinn und Halt.

Der Konsum von Menschenfleisch kann dabei ebenfalls mit dem Konsum von Drogen verglichen werden: Eater fühlten einen Entzug, wenn sie kein Menschenfleisch essen und unter Eatern gab es auch das Gerücht, dass der Verzehr von Knochen berauschen würde – wer “Bones and All” aß, war danach nicht mehr die gleiche Person.

Auch Lees Aufwachsen erinnerte an eine Drogengeschichte – sein Vater war gewalttätig, er kam in der Schule nicht gut mit und war durch das Eater-Sein ein Sonderling, der keinen Anschluss fand. Statt Drogen zu konsumieren, um mit seinen traumatisierenden Erfahrungen leben zu können, musste er Menschenfleisch essen.

Deswegen war es auch so passend, dass “Bones and All” Elemente von Roadtrip-Filmen übernommen hat. 

Road Trip Filme – gerade mit jüngeren Protagonisten – thematisieren oft Sinnsuche, das Gefühl von Einsamkeit und das Finden eines Zuhauses von Protagonisten, die weniger privilegiert sind. Diese Themen werden durch einsame Autofahrten, mit wunderschönen Hintergründen, einem  berührenden Soundtrack und intimen Begegnungen zwischen Figuren umgesetzt. Dabei werden unterschiedliche Handlungsstränge miteinander verbunden, ohne einem roten Faden folgen zu müssen.

Das folgende Wikipedia-Zitat fasst das Genre besser zusammen: “films exploring the theme of alienation and examining the tensions and issues of the cultural identity of a nation or historical period; this is all often enmeshed in a mood of actual or potential menace, lawlessness, and violence,[3] a “distinctly existential air”[4] and is populated by restless, “frustrated, often desperate characters”.[5] “ (Road movie – Wikipedia)

All diese Elemente finden sich in “Bones and All” und gibt Marens Suche nach ihrer ihrer Mutter, aber auch ihrer Beziehung zu Lee, noch mehr Tiefe, da sie beide obdachlose Teenager sind, die aufgrund ihrer Neigungen niemals Anschluss finden können. 

Kannibalismus verbildlicht aber auch das Gefühl, jemanden mit Haut und Haar verschlingen zu wollen – jemanden mit den eigenen Nägeln die Haut aufzureißen und die Zähne in die weichen Stellen zwischen Hals und Schulter zu schlagen. 

Habt ihr das Gefühl schon mal gefühlt? Ich schon. Als asexuelle Person weiß ich nicht, inwieweit das, was ich fühle, ein Equivalent zu sexuellem Verlangen sein kann, aber hin und wieder fühl ich so viel für eine Person, dass ich ihr weh tun will (hier ein Video zu Cuteness-Agression, bevor ich noch für komisch gehalten werde). 

Das Bild war durchgängig in warmen Sepiafarben gehalten, was zusammen mit den Panoramabildern in den Roadtrip-Szenen, den Close Ups-in den Horrorszenen und den ganz nahen Close-Ups von den romantischen Szenen ein nostalgisches Gefühl in mir erzeugte. Ich hatte das Gefühl, als unbeteiligte Person zwei Menschen auf ihrer Reise zu beobachten, ohne dass mir auch grausame oder intime Momente erspart blieben.

Die Musik hat mich dabei stellenweise an alte Horrormusik erinnert (denkt an das schreckliche Gequietsche, wenn der Mörder gleich sein schönes und blutjunges Opfer ersticht), ohne dabei kitschig oder veraltet zu wirken. Stattdessen haben die unterschiedlichen Tracks perfekt zu den unterschiedlichen Szenen gepasst, ohne herauszustechen oder abzulenken. Das macht für mich gute Filmmusik nämlich aus – sie fällt nicht auf, bis im Nachhinein auffällt, wie gut sie wirklich war.

Gerade die tolle Cinematographie und die Musik war aber tragend für die Roadtrip-Elemente von “Bones and All” – ohne die ganz großen Landschaftsbilder, die sehnsuchtsvolle Musik und das Gefühl, sich auf der Straße zu verlieren, die Intimen und einfühlsamen Momente zwischen Maren und Lee, aber auch die blutigen Ausschnitte, wenn Menschen gefressen werden waren schon für sich genommen mitreißend.

Zusammen mit den Themen macht das “Bones and All” zu einem Film, den ich unbedingt allen empfehlen will, die Roadtrips, Romanzen oder Horror oder alles zusammen mögen oder sich nicht vorstellen können, dass so ein bunter Mix auf der Leinwand wirklich funktioniert. Aber das tut es, da die unterschiedlichen Genre-Elemente dann verwendet wurden, wenn es gerade zur Handlung passte und nicht versuchte, unterschiedliche Elemente ineinander zu drücken.

“Bones and All” ist ein Film, der mich mitgerissen hat und nicht selten habe ich mir beim Schauen auch gewünscht, mich ebenfalls auf eine ziellose Reise zu begeben, um mich ohne Konsequenzen entdecken und entfalten zu können.

Deswegen: Schaut euch “Bones and All” an! Hin und wieder kommt es zu blutigen Szenen, in denen die Figuren fast vollkommen in Blut gebadet sind, aber die sind so selten und kurzweilig, dass der Film auch für nicht-horror-Fans gut zu schauen ist.

 

  • Titel: Bones and All
  • Originaltitel: Bones and All
  • Produktionsland: I, USA
  • Genre:
    Drama
    Horror

    Romanze
  • Erschienen: 2022
  • Spielzeit: 130 Minuten
  • Darsteller:
    Timothée Chalamet

    Taylor Russell
    Mark Rylance
    Chloe Sevigny
    André Holland
  • Regie: Luca Guadagnino
  • Drehbuch: David Kajganich
  • Kamera: Arseni Khachaturan
  • Schnitt: Marco Costa
  • Musik:
    Trent Reznor

    Atticus Ross
  • FSK: 16
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  • Video: Bildverhältnis 16:9
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Wertung: 14/15 dpt

 


2 Kommentare
  1. Alle haben den Verstand verloren, sonst wäre so ein Thema weder als Buch noch als Film möglich. Wenn Hässliches als schön und Grausamkeit als ästhetisch verkauft wird, sind das Zeichen von Dekadenz und Verrottung.

    1. Seit das Wort “Verstand” benutzt wird, haben Menschen, vielleicht um ihn nicht zu verlieren, sich ästhetisch gerade mit den hässlichen Seiten der Welt, mit Krieg, Grausamkeit, Trauer und Tod beschäftigt. Kannibalismus gibt es auch in der antiken Mythologie, im deutschen Märchen, in Trauerspielen des 17. Jahrhunderts, im 19. bei Kleist und vielen anderen und seit etwa fünfzig Jahren auch im Kino. Also entweder waren wir schon immer “dekadent” – oder dieser Film hat mit “Verrottung” einfach nichts zu tun.

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