Rainer Wittkamp – Mit aller Macht (Buch)

Henker im Unrechtsstaat

Mit aller Macht
© Pendragon

Paul Körber wuchs behütet bei Tante Edith und seinem Stiefvater Paul auf, der als Kommunist für die Internationale Brigade einst im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte. Paul ist ebenfalls regimetreu und studiert zunächst an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, wo er in einem Seminar „Strafrechtsgeschichte als Korrektiv der sozialistischen Gesellschaft“ erfährt, dass in seinem Land die Todesstrafe praktiziert wird.

Die Todesstrafe dient der Sicherung und somit dem dauerhaften Schutz unseres souveränen sozialistischen Staates. Also der Erhaltung des Friedens und des Lebens der Bürger. Deshalb trägt sie einen zutiefst humanistischen Charakter.

In einer Unterrichtsstunde lernt er den Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, kennen. Dieser vermittelt ihm später eine Stelle als Mitarbeiter der Hauptabteilung V für kulturelle Angelegenheiten. Als Anfang 1964 eine Liberalisierung der Kulturpolitik einsetzt, wird der zuvor als „imperialistische Affenkultur“ verbotene Jazz erlaubt. Paul, ein großer Fan dieser Musik, wird Leiter des neuen Unterreferats Jazz und erstellt eine Übersicht über alle Musiker des Landes, während er privat die hübsche Dora kennen und lieben lernt.

Dora verschweigt er seine Tätigkeit bei der Staatssicherheit, was nach einem tödlich endenden Verhör eines Musikers die ohnehin angespannte Ehe endgültig kippt. Dora hält sich mehr und mehr in Prag auf, wo sie sich nach einem gewalttätigen Übergriff ihres Mannes zur Flucht entschließt. Über Prag nach Wien. Republikflucht. Für einen Mitarbeiter des MfS die größtmögliche Katastrophe. Pauls beruflicher Ziehvater Mielke rastet aus und bietet zwei Alternativen: 25 Jahre Gefängnis mit anschließender Abschiebung oder stellvertretender Leiter der Strafvollzugsanstalt Leipzig inklusive der Tätigkeit als Henker.

Paul Körber, der Jazzfan, ein Henker? Staatsfeinde erschießen? Doch abgesehen von der wenig erfreulichen Alternative, hat Mielke einen Trumpf in der Hand. Pauls ihm unbekannter Vater war Fritz Wernicke, wichtigster Scharfrichter im Dritten Reich.

Schicksalswege einer Familie

Rainer Wittkamp, der Ende 2020 verstarb, schrieb mit dem vorliegenden Roman, dessen finale Manuskriptfassung er nicht mehr erlebte, ein packendes Buch, das tief in die deutsch-deutsche Geschichte führt. Ein Tätervolk in zwei totalitären Systemen, fixiert auf eine Familie. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Zunächst wird der eingangs skizzierte Lebensweg von Paul Körber bis in das Jahr 1967 beschrieben, was damit endet, dass ihm Mielke die Identität seines Vaters offenbart und Tante Edith ihm dessen Tagebücher übergibt. Im Mittelteil folgt der Lebenslauf seines Vaters bis 1946 und abschließend das Leben von Paul ab 1967.

Vater Fritz wollte in der Gastronomie den großen Erfolg, träumte vom eigenen Hotel und musste nach einem finanziellen Betrug, dessen Opfer er wurde, in Leipzig von vorne anfangen. Hier lernt er 1935 seine spätere Frau kennen, deren Vater als Scharfrichter arbeitet. Als einer seiner Assistenten ausfällt, übernimmt Fritz dessen Aufgabe, darauf hoffend, dass er so seiner geliebten Lina näherkommt und das familiäre Hotel einst übernehmen kann. Noch sind es wenige Hinrichtungen, was sich später grundlegend ändern wird. Gegen Ende des Krieges wird er in Plötzensee henken, ein Massengeschäft, dem er sich nicht mehr entziehen kann. Zunächst will er den Schwiegervater nicht enttäuschen, zum Schluss droht die Todesstrafe, so er den Beruf aufgibt. Paul wird es später ähnlich gehen, denn er verstrickt sich im Machtgeflecht von Mielke, der skrupellos mit harter Hand regiert.

Du wirst dort Stellvertretender Anstaltsleiter und in der Strafvollzugseinrichtung Leipzig zusätzlich auch die Aufgaben des Scharfrichters übernehmen.“
„Ich verstehe nicht …“
„Du sollst dort Hinrichtungen durchführen.“
„Sie meinen, ich soll Straftäter hängen?“
„Hängen? Quatsch! Du wirst den Abschaum mit der Pistole eliminieren. Wir sind ja schließlich nicht mehr im Mittelalter.

In beiden Biografien stehen sich Privates und Berufliches mitunter unversöhnlich gegenüber, wenngleich Vater wie Sohn absolut regimetreu sind und somit gar nicht realisieren, wie sie sog artig immer tiefer in den Abgrund stürzen. In ihrem Verhalten zeigt sich beispielhaft, wie Millionen Deutsche im Dritten Reich und später in der DDR zu willfährigen Mitläufern und eben Tätern wurden. Ein leichtes Unwohlsein war wohl vorhanden, doch zu mehr reichte es nicht. Die Frage, ob sie sich in einem totalitären Staat schuldig gemacht haben, beantworten die beiden Protagonisten gegen Ende ihres Lebens letztlich selber.

„Mit aller Gewalt“ ist ein lesenswerter Ausflug in zwei düstere Kapitel der deutschen Geschichte. Die Arbeit des Henkers oder Scharfrichters mit der Fallschwertmaschine, später wurde zur Pistole gegriffen, wird detailliert beschrieben und gibt Einblicke in ein blutiges Handwerk. Zudem wird das Leben in totalitären Staaten anschaulich beschrieben, der enorme Druck, dem man sich nur schwer entziehen kann, die drohenden Repressalien. Außerdem ist der Einblick in die Anfangsjahre der DDR und ihre Einstellung zum Jazz für Musikfans nicht uninteressant. Es gibt also gleich mehrere Gründe, „Mit aller Macht“ zu lesen.

  • Autor: Rainer Wittkamp
  • Titel: Mit aller Macht
  • Verlag: Pendragon
  • Umfang: 248 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: Februar 2022
  • ISBN: 978-3-86532-759-8
  • Produktseite


Wertung: 12/15 dpt

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