Lea Stein – Altes Leid (Buch)


Hamburg 1947. Die Stadt liegt noch großflächig in Trümmern, die Ernährungslage ist desaströs, Rückkehrer und Flüchtlinge durchströmen die Straßen. Bunker und sogenannte Nissenhütten beherbergen viel zu viele Bewohner. Die Polizei wird bis zum November unter britischem Kommando stehen und ist heillos überfordert mit Kontrollen, dem Unterbinden von Schwarzmarktgeschäften, der sinnlosen Hatz auf Hamsterfahrer und jugendliche Kohlendiebe. Von realer Kriminalität, dem alltäglichen Wahnsinn und verzweifelten Versuchen zu einer Art von Normalität zurückzukehren, ganz zu schweigen.

Männliches Personal ist nicht nur aus Kriegsgründen dünn gesät, der Polizeiberuf selbst scheint wenig verlockend. Deshalb folgt der Beschluss, Frauen einzustellen. Nach einer viel zu kurzen achtwöchigen Einweisung bekommen die angehenden Polizistinnen eine Uniform und eine Trillerpfeife verpasst. Bewaffnung ist – vor allem unter der britischen Aufsicht – nicht vorgesehen. Die weiblichen Beamtinnen sollen sowieso in erster Linie Präsenz zeigen und die Befragungen (und Betreuung) von Kindern, Alten und Schwachen übernehmen. Dem Frauenbild der Dekade entsprechend soll der mütterliche Aspekt betont werden.

Davon hält Ida Rabe wenig, als sie ihren Dienst in St. Paulis Davidwache antritt. Sie ist froh ihr altes Leben im Untergrund Hamburgs hinter sich lassen zu können, besitzt ein Gespür für Zusammenhänge und mögliche Verbrechen, dem sie motiviert nachgeht. Ihrer jungen Kollegin Heide Brasch, Tochter eines Oberkommissars, begegnet sie mit Misstrauen, hängt ihr doch der Ruf einer Petze an.

Dem damaligen Dekret nach, getrennt von männlichen Beamten ihrer Büroarbeit nachgehen zu sollen, hocken die beiden Polizisten in einem Kellerkabuff und sollen Meldungen abtippen, wenn sie nicht an Deck für Präsenzgänge und Befragungen gebraucht werden. Ida gerät gleich zur Begrüßung mit Polizeimeister Hildesund aneinander der ihr unter die Nase reibt, was er von weiblichen Polizisten hält: Nichts.

Frauen bei der Polizei […], das mag funktionieren, solange die Männer in Kriegsgefangenschaft sind. Aber wenn sie erst wieder zurück sind, wieder Ruhe und Ordnung herrscht und alles beim Alten ist, dann wird es in allerlei Haushalten ein Donnerwetter geben. […] Doch bilden sie sich ruhig für eine Weile ein, hier auf Verbrecherjagd gehen zu können. Bald ziehen wir andere Saiten auf. Dann heißt es; zurück in ihren Wirkungskreis, Beste, ins traute Heim zu Kindern und Kochtöpfen.


Ida, mit 1,82 dem Mann um Haupteslänge überlegen, hat dafür nur ein wütendes Lachen über. Das ihr in der Zusammenarbeit, nicht nur mit Hildesund, ein ums andere Mal vergehen wird. Selbst, wenn sie längst bewiesen hat, dass sie eine durchsetzungskräftige, fähige Ermittlerin ist.

Im Zuge der Archivarbeit stößt Ida auf Indizien, die auf eine Raub- und Vergewaltigungsserie hinweisen. Zu der sich bald noch Morde hinzugesellen. Obwohl sie mit Miss Watson eine scharfe britische Vorgesetzte besitzt, beginnt sie den Spuren nachzugehen. Kontaminiert dabei einen Tatort, was von Ares Konstantinos, dem ihr alsbald sehr zugeneigten, Gerichtsmediziner vertuscht wird, und kommt dem Täter nach einiger Zeit bedrohlich nahe. Wenn es denn nur einer ist.
Ihre Arbeit führt Ida zurück in die unterirdischen Bunker, in denen sie zuvor als Vertraute Marlises, der Herrscherin des Untergrunds, hauste, mit der sie eine Mutter-Tochter-Hassliebe verbindet. Hass, weil Ida in den Augen Marlises Verrat beging, als sie aus den Tiefen der Stadt Richtung Polizei desertierte.

Die Schilderung des Treibens gelingt Lea Stein einprägsam und atmosphärisch. Sie erfasst die betriebsame Hektik, das Bedrohliche, den Schmutz und die Verzweiflung, die in den Bunkern herrschen. Später, als es dort zu einem Polizeieinsatz kommt, wird sich Ida als wehrhaft erweisen und die Beziehung zu Heide Brasch in neue Bahnen lenken. Handlungsebenen und Zeitgeschichte zu verweben, ist Stein den gesamten Roman hindurch exzellent gelungen. Sie zeichnet die Auswirkungen der Zerstörung Hamburgs und seiner Bewohner, die Armut, Ungewissheit, Trauer und Lebensmittelknappheit anschaulich und eindringlich auf. So leidet Ida Rabe nahezu permanent an Hunger, ihre knapp bemessenen Rationen werden beschrieben, ebenso wie das Verlangen nach ausreichend Essen, Getränken und Zigaretten. Kekse beim seltsamen Nachbarn sind ein kulinarischer Höhepunkt der Woche.

Zu knacken hat Ida auch an der Begegnung mit zahllosen Kindern ohne Kindheit. Die verloren gehen und beschützt werden müssen, unter anderem vor unverständigen und strafgeilen Ordensschwestern. Kinder und Jugendliche, die die Stadt nach Diebesgut durchstreifen, Kohlen von fahrenden Eisenbahnwaggons “bergen” oder mit ihren Müttern auf Hamsterfahrt ins Umland gehen. Ein riskantes Unterfangen, steht dies doch unter Strafe und wird von den britischen wie deutschen Behörden verfolgt und streng geahndet. Etwas, dass Ida verzweifeln und in Bedrängnis geraten lässt, hat sie doch Verständnis für die Notlage der an Hunger leidenden Lebensmittelbeschaffer.

Auch die Nachwirkungen von zwölf Jahren faschistischen Terrors fließen geschickt ein, ohne dass der Erzählstoff davon überlagert wird. Das wird beiläufig, aber präzise abgehandelt wie in den Bemerkungen Hildesunds und seinem Sehnen nach der “alten Ordnung”. Auch in den brutalen Untaten des Monsters ist die jüngste Vergangenheit präsent, ebenso wie bei seinem berechtigt unerbittlichen Verfolger, der Kapitel aus eigener Perspektive spendiert bekommt. Selten hat man mehr Verständnis für einen Mörder aufgebracht.

Lea Stein erschafft eindringliche Bilder von Zerstörung, Armut und Verzweiflung, vergisst dabei aber weder Zusammenhänge aufzuzeigen noch eine spannende, komplexe Kriminalgeschichte zu erzählen. Deutlich im Fokus steht die oft Herabwürdigung von Frauen, nicht nur in der Arbeitswelt. Vergewaltigungen werden als Bagatelle abgetan, wenn den Opfern nicht sogar eine Mitschuld zugeschrieben wird. Es herrscht Diskriminierung am Arbeitsplatz, bis hin zum, blanken Hass. Stein verfällt auch in diesen Passagen nicht ins Dozieren, sondern bleibt eng an ihren Figuren, ihren Wahrnehmungen und korrekten Schlussfolgerungen. Die in Idas Fall zunächst von ihren Vorgesetzten mit großer Missbilligung abgestraft werden. Wobei sie am Ende Recht behält und sich, genretypisch, erst selbst in Lebensgefahr begeben muss, um als ernste Größe wahrgenommen zu werden. Eine Ausnahme in diesem Zirkel männlicher Verblendung (und Verblödung) stellt immerhin der freundliche Gerichtsmediziner Ares Konstantinos dar, der Ida Rabe von der ersten Begegnung an unterstützt. Er ist in der Lage zu erkennen, was die verblendeten Kollegen nicht sehen.

Ida Rabe ist eine Hommage an Rosamunde Pietsch, Hamburgs erste Polizeikommissarin, die 1945 nach kurzer Ausbildung ihre erste Stelle als Schutzpolizistin antritt, 1953 Kommissarin wird und ab 1954 die weibliche Schutzpolizei leitet. 2016 stirbt Pietsch im Alter von 101 Jahren. Starke Frau. Transferiert man ihren Lebenslauf ins Literarische wird man noch einiges von Ida Rabe erwarten dürfen. Der erste Auftritt überzeugt nahezu komplett. An wenigen Stellen neigt der Roman zur Überfrachtung. So gerät die aufreibende Beziehung Idas zur “Bunkerkönigin” Marlise im späteren Verlauf nahezu in Vergessenheit. Aber das kann ja zukünftig aufgegriffen und erweitert werden und schmälert nicht die Meriten eines lesenswerten Buches.

Cover © Heyne Verlag

  • Autor: Lea Stein
  • Titel: Altes Leid
  • Teil/Band der Reihe: Ida-Rabe-Reihe, Band 1
  • Verlag: Heyne
  • Erschienen: 01/2023
  • Einband: Paperback, mit Klappenbroschur (Stadtplan)
  • Seiten: 448
  • ISBN: 978-3-453-42606-1
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite
  • Erwerbsmöglichkeiten


    Wertung: 11/15 dpt


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