Die Wiederentdeckung eines modernen Klassikers
Wenn ein Buch mit dem Label Kultbuch durch die Feuilletons gereicht wird, ist die Erwartungshaltung hoch. Erst recht, wenn dieser 1982 in der damaligen DDR erstmals erschienene Roman vierzig Jahre später, also 2022, erneut aufgelegt wird.
Die erste Feststellung bei der Lektüre: Der Roman hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Sowohl inhaltlich als sprachlich funktioniert die Geschichte von der jungen Literaturwissenschaftlerin Almut, die sich jahrelang in einem Zustand permanenter Überforderung befindet, noch immer hervorragend.
Almuts Vater, ein hochdekorierter inzwischen pensionierter Funktionär, möchte sein Segelboot, Typ Drachen, verkaufen. Es ist ihm inzwischen zu anstrengend geworden. Almut, die mit dem Boot kostbare Erinnerungen verbindet, kauft es dem Vater ab.
Bereits der Preis ist zu hoch und auch sonst sprengt der Drachen das Leben der alleinerziehenden berufstätigen Frau. Das Boot, das für eine einzelne Person zu groß ist, frisst ihre gesamten Ersparnisse, raubt ihre komplette Freizeit und fordert sie auch sonst physisch und psychisch über ihre Grenzen hinaus. Almut, die nicht einmal gut genug segeln kann, muss sich handwerklich beweisen, sie jagt Ersatzmaterial hinterher, ist gezwungen sich in einer von Männern dominierten Welt zu vernetzen. Das Boot prägt ihr Leben über Jahre hinweg. Immer wieder spielt sie mit dem Gedanken es loszuwerden, bleibt ihm am Ende aber gegen jede Vernunft treu.
Die Autorin lässt uns die Geschichte aus der Ich-Perspektive ihrer Protagonistin erleben. Erinnern und Reflexion bestimmen den Erzählfluss. Rückblickend mäandert sie durch die Chronologie der Ereignisse, setzt ihre ganz persönlichen Akzente, das Tun um das Boot immer im Mittelpunkt.
Zwischen den Zeilen entsteht ein sehr lebendiges Bild von Almuts Alltag, der durchaus exemplarisch für das Alltagsleben vieler Frauen in der DDR betrachtet werden darf. Berufstätigkeit und Mutterschaft werden beide gerne in Kombination gesehen. Man ist ja aufgeklärt und emanzipiert. Und doch ist die Kluft zwischen Ideologie und Praxis nicht immer nahtlos zu überbrücken. Auch sonst ist Almut längst nicht in allen Belangen gleichberechtigt. Männer dominieren und setzen Grenzen. Aber Almut ist eine, die sich gegen all diese Hindernisse stemmt. Die es allein schaffen will.
Und dann ist da noch die Beziehung zum Vater. Almuts Erinnerungen an ihn sind fest mit dem Boot verbunden. Der Drache, den ihr der Vater überlässt, ist wie eine zu groß geratene Lebensaufgabe, die Almut trotzig annimmt.
Die war Vorschot- und Steuermann gleichzeitig, schaute voraus, warnte vor Böen
und Kollisionen und sah auf das Windfähnchen, bestimmte
den Kurs. Mit der einen Hand führte sie die Segel, mit der
anderen hielt sie das Steuer. Das Zusammenspiel war gut.
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin, graugesichtig von
Montag bis Freitag in einem Institut über Korrekturen,
war nicht mehr verachtet; die Einzelkindmutter ohne
Vernachlässigungskomplex; die Wochenendforscherin und ihre
Suche nach dem emanzipierten Menschenbild nicht
unterdrückt; die Lackiererin stolz. Die hatten doch miteinander
zu tun. Diese getrennten Leben, die sich bedrängt und
beengt hatten, atmeten denselben Atem. Es war ganz einfach, jetzt.
Die gefällt mir, die möchte ich sein, dachte ich: die Alleinseglerin.“
Seite 167
Das Boot wird zum Symbol eines Lebens, das sich allen Vernunftgründen widersetzt. Almut wird zur Alleinseglerin, zu einer Person, die es mit einer Sache aufnimmt, der sie eigentlich nicht gewachsen ist, in die sie im Laufe der Zeit aber dann doch hineinwächst.
Wolters Roman hat auch vierzig Jahre nach dem ersten Erscheinen nichts von seiner Lebendigkeit verloren. Die Autorin überzeugt durch ihre unaufgeregt poetische Sprache. Sie porträtiert das Leben selbst und vermittelt so ihren Leser:innen den tröstlichen Gedanken, nicht allein zu sein.
- Autorin: Christine Wolter
- Titel: Die Alleinseglerin
- Verlag: Ecco Verlag
- Erschienen: August 2022
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 208 Seiten
- ISBN: 978-3753000732
Wertung: 12/15 dpt
Schön, das Ihr dieses tolle Buch aufgegriffen und rezensiert habt. »Das Boot wird zum Symbol eines Lebens..«, ein kluger Satz dazu.
Wir fanden bemerkenswert die Doppel-Perspektive DDR bzw. Italien, der weibliche Blick und die unglaublichz schöne Sprache. Wir waren so begeistert, dass wir »Die Alleinseglerin« gleich zweimal rezensiert haben, aus männlicher und aus weiblicher Sicht.
Dann werden wir hier noch ´n bischen stöbern – Gruß aus Berlin!
PS: Der Link zu der einen Rezension:
https://mittelhaus.com/2023/01/16/christine-die-alleinseglerin/