Die schwedische Autorin Selma Lagerlöf schreibt diesen Roman 1924 im Alter von 67 Jahren. Er ist der zweite Band einer Trilogie, lässt sich aber sehr gut einzeln lesen und ist ein in sich abgeschlossener Roman – jetzt in Neuübersetzung von Paul Berf und mit einem fabelhaften Nachwort von Mareike Fallwickl als Handtaschen-Hardcover im Manesse Verlag erschienen.
Die Handlung spielt im Jahr 1820 und den Folgejahren in der schwedischen Provinz Värmland. Es dauert erstaunlich lang, bevor der Name Charlotte Löwensköld das erst Mal fällt: Viele Seiten geht es zunächst um die Frau eines Oberst, die Oberstin, ihren guten Ruf und das Ansehen, das die ehrbare Frau genießt und welche bemerkenswerten Feste in ihrem Haus gefeiert werden. Von Anfang an zieht einen der märchenähnliche Erzählstil in seinen Bann. Wer beim Vokabular bezüglich skandinavischer Geschichte und Kultur Anfang des 19. Jahrhunderts etwas ins Straucheln gerät, kann beruhigt sein: Zahlreiche Anmerkungen am Ende des Buches helfen beim Verständnis und geben nebenbei interessante Hintergründe zu Zeitpunkt und Ort der Romanhandlung.
Karl-Artur Ekenstedt ist Dreh-und Angelpunkt der Erzählung: Er ist der Sohn der Oberstin und wird – gelinde gesagt – von ihr verhätschelt und nach Strich und Faden verwöhnt. Trotz fragwürdiger Entscheidungen, die er in seinem Leben trifft, fällt immer wieder der Satz: „Er ist zu Höherem berufen.“ Als Hilfspfarrer wohnt er bei Propst und Pröpstin, wo er die bescheidene (aber auch als “frech” bezeichnete) und mittellose Charlotte Löwensköld kennenlernt und über fünf Jahre mit ihr verlobt ist, bevor die eigentlich erzählte Geschichte erst losgeht: Auf Grund von Intrigen und übler Nachrede löst Karl-Artur die Verlobung und beschließt, stattdessen die Erstbeste zu heiraten, die Gott seinen Weg kreuzen lässt. Charlotte hat unterdessen plötzlich einen Verehrer: den äußerst wohlhabenden Bergbaudirektor Schagerström, der sich seit einem Scherz für sie interessiert … Es geht um Missverständnisse, sturen Männerstolz, clevere Frauen, die im Verborgenen die Fäden ziehen, Schicksale lenken und dabei immer nur das beste für ihre Männer wollen. Die das meist nicht mal mitbekommen.
Lagerlöfs Frauenfiguren sind auffällig: Nicht in dem Sinne, dass sie aufsässig wären oder laut ihre Meinung sagen, nein, eher in ihrem subtilen Handeln und dem ständigen Durchblick, um nicht zu sagen ihrer Weitsicht und der klaren Vorstellung davon, was sie wollen. Beispiele dafür sind die tatkräftige Pröpstin, die Oberstin, die von allen verehrt wird, die Intrigen schmiedende Thea sowie natürlich Charlotte, der Karl-Artur seine Liebe verwehrt und die dennoch treu und loyal an seiner Seite steht. Starke und mutige Frauen ja, rebellische nein.
Solche und ähnliche Ausführungen lassen einen beim Lesen oft schmunzeln. Die Erzählinstanz weiß auch zu überraschen: Karl-Artur führt plötzlich ein Zwiegespräch mit Blumen oder Einschübe wie „Aber das führt uns jetzt zu weit ab von der Handlung“ brechen den traditionellen Lesefluss auf originelle Weise.
Selma Lagerlöf war beim Verfassen des Romans bereits berühmte Autorin und Trägerin des Literaturnobelpreises. Sie war stolz auf ihre Erzählkunst, die ein besonderes Merkmal aufweist: Jedes Kapitel ist eine abgeschlossene Erzählung. „Das soll mir erst einmal jemand nachmachen.“, schreibt sie 1891 in einem Brief. Noch mehr spannende Details und Wissenswertes über die Autorin liefert das Nachwort von Mareike Fallwickl. Sie bezeichnet den Roman zurecht als „Verwirrspiel mit vielen Fäden“ und fragt sich, wie Selma Lagerlöf wohl heute leben würde und wie ihr Instagram-Feed aussähe – ein fabelhafter Beitrag!
Der Roman “Charlotte Löwensköld” sei allen ans Herz gelegt, die wissen möchten, was die Nobelpreisträgerin neben „Nils Holgersson“ noch zu schaffen imstande war: Höchste Erzählkunst à la „Buddenbrooks“ plus feinsinniger Humor und originelle Brüche beim Erzählen. Eine Art Jane Austen-Roman für alle, die es etwas mehrschichtiger mögen und an skandinavischer Kultur und Tradition interessiert sind.
Hinweis in eigener Sache:
Wer auf den Geschmack gekommen ist und gerne Podcast hört: Zu Selma Lagerlöf gibt es ganz aktuell auch eine Folge “Autorinnen im Porträt”. Darin sprechen Mariann und ich zum Beispiel über ein Geheimnis der Autorin, das erst 50 Jahre nach ihrem Tod an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Ein kleiner Skandal einer mutigen Frau. Aber hört am besten selbst: Hier geht’s zur Folge.
- Autorin: Selma Lagerlöf
- Titel: Charlotte Löwensköld
- Originaltitel: Charlotte Löwensköld (1925)
- Übersetzer: Paul Berf
- Verlag: Manesse
- Erschienen: 05. Oktober 2022
- Einband: Hardcover (mit Lesebändchen)
- Seiten: 480
- ISBN: 978-3-7175-2534-9
- Sonstige Informationen:
- Produktseite
Wertung: 12/15 dpt