Stiller Zorn: Vier vermisste Menschen, Blues und Alkohol
New Orleans. 1964. Wie so oft sitzt Privatdetektiv Lew Griffin in einer Kneipe und lässt sich volllaufen. Erst kürzlich hat er einen Mann ermordet, einen Vergewaltiger und Serienmörder, jetzt liegt sein Vater im Sterben. Vor sich hin sinnierend wird er von zwei Schwarzen angesprochen, die seine Dienste benötigen. Corene Davis stieg am 17. August in New York in ein Flugzeug, ein Direktflug nach New Orleans, wo sie einen Tag später in Empfang genommen werden sollte. Doch die Führerin einer Bewegung der Schwarzen, die an der Uni eine Rede halten sollte, kam nie an. Griffin übernimmt den Fall und findet heraus, dass sie offenbar als „weiße“ Prostituierte arbeitete und sich Blanche nannte. Zu guter Letzt findet er sie, geistig abwesend, in einer staatlichen Klinik. Von den beiden Schwarzen die ihn beauftragten war einer Will Sansom, der sich auch Abdullah Abded nennt, und Führer der Schwarzen Hand ist. Für Griffin ist jedoch klar: Corene braucht momentan Freunde, keine fanatischen Anhänger.
„Greifen Sie ihn auf?“
„Wozu denn das? Der ist wieder draußen, bevor wir mit dem Papierkram angefangen haben.“
„Und was ist mit den allgemeinen Moralvorstellungen?“
„In New Orleans? Das soll wohl ein Witz sein?
Sechs Jahre später verschwindet die sechzehnjährige Cordelia Clayson in New Orleans. Ihre aus Clarksdale/Mississippi stammenden Eltern machen sich große Sorgen und dies zu Recht. Kann Griffin dieses Mal schlimmeres verhindern?
Start für Lew Griffin
Mit „Stiller Zorn“ startet die Lew-Griffin-Serie, die James Sallis zum internationalen Durchbruch verhalf; die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel „The Long-Legged Fly“. Der zweite Teil „Nachtfalter“ ist ebenfalls auf Deutsch erschienen, vier weitere Bände stehen noch aus, so sie denn jemals übersetzt werden sollten. Sallis wartet mit einem ungewohnten Protagonisten und einem ebensolchen Noir auf. Die Geschichte spielt über insgesamt sechsundzwanzig Jahre und erzählt gleich vier Fälle. Das Verschwinden der Corene Davis im Jahr 1964 und die Suche nach Cordelia Clayson im Jahr 1970 bilden dabei den Auftakt. Nach einem schweren Absturz im Jahr 1984 kommt Griffin für lange Zeit in eine Klinik und später in einem „Behüteten Haus“ unter, welches von Will Sansom getragen wird. Dort findet er Ruhe und lernt Jimmi Smith kennen, der ihn einige Zeit später bitten wird, nach dessen Schwester Cherie zu suchen. Last but not least wäre da noch die abschließende Suche nach seinem eigenen Sohn, der 1990 spurlos verschwindet.
„Genauso wie ich weiß, wie ich mein Geld verdiene. Wie du dein Geld verdienst. Wie wir alle, auf die eine oder andere Art. Wir sind keine Engel, Lew. Engel kriegen hier unten keine Luft. Sie würden sterben.
Griffin ist ein zwiespältiger Charakter wie schon die eindringliche Anfangsszene zeigt. Zwar schimmert immer wieder durch, dass er wohl das Herz am rechten Fleck haben könnte, doch so richtig kommt er nicht klar in seinem Leben, was nicht zuletzt dem Alkohol geschuldet ist. Seine Ehe mit Janie, aus der der später verschwundene Sohn David stammt, ist schon 1964 beendet; da war man gerade einmal zwei Jahre verheiratet. Er freundet sich mit der Prostituierten LaVerne an, mit der er eine On-Off-Beziehung führt, aber ein gemeinsames Leben scheint nicht vorstellbar. Dies soll 1970 mit Vicky endlich funktionieren, die sich zuvor im Krankenhaus um ihn kümmerte. Die Krankenschwester hat Schichtdienst, Griffin kann sich seine Arbeitszeiten einteilen. Wunderbar, doch Vicky stammt aus Europa und will dorthin zurück. Bezeichnenderweise nach Paris, der Stadt der Liebe.
Sallis schreibt einen ungewöhnlichen Stil, will sich an die Spielregeln des Noir nur bedingt halten. Der Protagonist liegt oft am Boden, seine Liebesbeziehungen haben ein begrenztes Haltbarkeitsdatum und um ihn herum ist die Welt düster und schlecht. Das war schon immer so in New Orleans, jener Stadt, die vom Blues lebt und dennoch mitunter für Schwarze wie Griffin oft trostlos ist. Ich-Erzähler Griffin ist trotz seiner Alkoholkrankheit keineswegs dumm, studiert später Literatur und findet am Ende des Romans sogar seine neue Berufung. Er wird Schriftsteller und entschließt sich, in seinem nächsten Roman eine Figur einzubauen, die er Lew Griffin nennen wird.
- Autor: James Sallis
- Titel: Stiller Zorn
- Originaltitel: The Long-Legged Fly (1992). Aus dem Englischen von Georg Schmidt
- Verlag: Dumont
- Umfang: 189 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Mai 2013
- ISBN: 978-3-8321-6235-1
Wertung: 12/15 dpt