2022 verging wie im Flug, und Zeit für Rezensionen blieb mir schlicht nicht. Hinzu kommt, dass ich in einer niederländischsprachigen Brüsseler Stadtteilbibliothek für Kinder- und Jugendbuch zuständig bin, und deshalb in dem Bereich viel lesen muss. (Für Empfehlungen stehe ich jederzeit gerne zur Verfügung. Zu Jugendbüchern mit Mädchen in der Hauptrolle habe ich sogar kürzlich auf dem Blog der Brüsseler Bibliotheken etwas geschrieben.) Trotzdem sind mir auch jede Menge lesenswerte deutschsprachige Bücher untergekommen, von denen ich einigen unbedingt mehr Leser wünsche. Nicht alle sind frisch erschienen, denn ich bin wohnortbedingt immer ein bisschen hinterher.
Jasmin Schreiber – Marianengraben
In Jasmin Schreibers Debütroman Marianengraben geht es um Paula, die nach dem Unfalltod ihres zehnjährigen Bruders Tim, der ihr Ein und Alles war, nicht recht ins Leben zurückfindet. Bei einem nächtlichen Friedhofsbesuch trifft sie auf Helmut, der die Urne seiner Freundin Helga ausgräbt, um einem Versprechen nachzukommen. Durch ein Missgeschick werden ihre Lebenswege verflochten, statt sich nur zu kreuzen, und so kommt es, dass sie zusammen in Helmuts Wohnmobil in die Berge aufbrechen. Die Geschichte wird von Paula erzählt, die sich oft direkt an ihren Bruder wendet und sich an Gespräche mit ihm erinnert. Das traurige Thema des Verlusts einer geliebten Person wird trotz der humoristischen Herangehensweise nicht ins Lächerliche gezogen, und so empfindet man zwar Paulas Trauer, muss jedoch die meiste Zeit über die Situationskomik zwischen den beiden ungleichen Weggefährten lachen.
Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter
Wer in den achtziger Jahren in einem Dorf in einer typischen Mittelschicht-Kernfamilie aufgewachsen ist, für den dürfte Lügen über meine Mutter zahlreiche Erinnerungen heraufbeschwören. Wie herablassend damals häufig der Ton der Ehemänner gegenüber ihren Frauen war, wie wenig Mitspracherecht diese hatten, wenn es um ihr eigenes Leben oder ihre Kinder ging, wie grenzenlos die Möglichkeiten waren, das Selbstwertgefühl einer Frau mit dem Erdboden gleich zu machen. Ela erzählt uns die Geschichte ihrer Kindheit, in der sie machtlose Beobachterin ist, wie ihr Vater die Frustration über sein eigenes, mäßig erfolgreiches Berufsleben an ihrer Mutter auslässt, die nie gut genug und dabei immer zu dick ist. Wie es damals so üblich war, schmeißt diese klaglos einen Haushalt mit erst einem Kind, dann zwei Kindern, dazu noch einem zugelaufenen Pflegekind, und kann es trotzdem weder ihrem Mann noch ihrer nebenan wohnenden Schwiegermutter je recht machen. Die erzählenden Kapitel werden durch Reflexionen der inzwischen erwachsenen Erzählerin unterbrochen, die ihre Erinnerungen von damals analysiert. Ein gnadenloses Gesellschaftsporträt und eine packende, präzise beschriebene, tragische, weil alltägliche Familiengeschichte.
Karen Duve – Sisi
Bücher über die österreichische Kaiserin Elisabeth gibt es wie Sand am Meer. Brauchte es da dieses noch? Die Antwort ist ganz eindeutig: Ja! Nie wurde die damalige adelige Gesellschaft trockener seziert als von Karen Duve. Und dabei wird vor allem viel geritten, denn Sisi interessierte sich in erster Linie für Pferde und waghalsiges Reiten, gerne im Rahmen von Parforcejagden. Immer wieder unfassbar, wie ereignisarm der Alltag vor allem der Damen in den höchsten Kreisen der westeuropäischen Gesellschaft war! Und wie diametral sich ein Männerleben von einem Frauenleben unterschied. Während Kaiser Franz Joseph versucht, einen Krieg auf dem Balkan zu vermeiden, hat Sisi nur Pferde im Kopf. Wir erleben sie als eitle Frau – immerhin galt sie damals als die schönste Frau weit und breit -, die ihre älteste Tochter auf Abstand hält, weil sie neben dieser alt aussieht, und die auch sonst nicht gerade als liebevolle Mutter brilliert. Statt dessen nimmt sie sich ihrer Nichte Marie Louise an, Tochter ihres Bruders Ludwig, der eine Schauspielerin geheiratet hat, was einem gesellschaftlichen Selbstmord gleichkommt. Doch durch die Nähe zur Kaiserin, der jeder und jede zum bedingslosen Gehorsam verpflichtet ist, gelingt ihr ein Aufstieg. Der Preis, den sie dafür bezahlt, ist die Freiheit, über ihre eigene Zukunft bestimmen zu dürfen – sofern sie die überhaupt hatte. Für Geschichte zum Anfassen muss man bei Karen Duve sein.
Jan Weiler – Der Markisenmann
Über ihren leiblichen Vater weiß die 15-jährige Kim nichts, und plötzlich soll sie zur Strafe die Sommerferien bei ihm verbringen, während ihre Familie in die USA reist. Außer 3.406 hässlichste Markisen in zwei Ausführungen, die er ausschließlich an der Haustür verkauft, besitzt dieser so gut wie nichts und wohnt entsprechend ärmlich in einer Lagerhalle. Auf einen Besuch seiner Tochter, die er bisher nicht kennt, ist er nicht eingestellt. Anfängliche Bockigkeit beiderseits weicht schnell der Neugier, und so richten sie sich in ihrer ad hoc Vater-Tochter-Beziehung ein und verticken die Markisen mithilfe allerlei Tricks gemeinsam. Doch wieso hat Kims Vater diese Markisen überhaupt? In bewährter Jan-Weiler-Manier werden alle Personen liebevoll und facettenreich charakterisiert und ist der Plot überraschend, aber völlig stimmig. Ein humorvolles und trotzdem berührends Buch.
Dr. med. Sheila de Liz – Woman on Fire
Zu guter Letzt noch ganz was anderes: ein Sachbuch. Über ein noch immer gerne todgeschwiegenes Thema, die Menopause. Dabei ereilt sie früher oder später über die Hälfte der Weltbevölkerung. Und man hört so gut wie nichts darüber. Das wollte Frauenärztin de Liz ändern. Wer ahnt schon, dass Gelenkschmerzen, geschwollene Hände und Füße, Tinnitus, Depressionen und vieles andere schlicht und ergreifend (Peri-)Menopausesymptome sein können? Also, ich jedenfalls wusste es nicht. Erst als ich letzten Sommer alle zehn Minuten mein eigenes Dampfbad wurde, fand ich es an der Zeit, mich mal schlau zu machen. Und siehe da: Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich nehme es meiner Hausärztin nach wie vor übel, dass sie, zu der ich mit all diesen Symptomen ging, mich nicht ein einziges Mal darauf hingewiesen hat. Mein ewiger Dank gilt daher der Autorin von Woman on Fire. Dank ihrer Empfehlungen fühle ich mich seit Jahren zum ersten Mal wieder wie ein Mensch – und das innerhalb weniger Wochen! Deshalb, liebe Frauen, die ihr nicht wisst, was zur Hölle mit euch los ist: Lest dieses Buch!
Neben diesen fünf Büchern gab es noch jede Menge andere lesenswerte, aber wenn man das Jahr mit einem allzu großen Stapel ungelesener Bücher beginnt, ist das vielleicht auch nicht so motivierend. Ich wünsche jedenfalls ein frohes neues Lesejahr!