Arm gegen Reich, das alte Spiel
In der kleinen Stadt West Table, gelegen in den Ozarks in Missouri, kommt es 1929 zu einem tragischen Vorfall. Die Arbot Dance Hall explodiert, zweiundvierzig Menschen verlieren ihr Leben. Darunter die junge Ruby, eine begehrte Schönheit, die den Männern reihenweise den Kopf verdrehte und sich von ihnen aushalten ließ. Allen voran von Arthur Glenncross, dem Direktor der Citizen Bank.
Sheriff Shot Adderly, der sonst nach der Pfeife der Mächtigen tanzt, will eine ehrliche Aufklärung und nicht wie sonst die Wahrheit geradebiegen, um wiedergewählt zu werden. Dieses Mal soll alles ganz anders sein, ein frommer Wunsch, der ungehört verhallen wird. Auch dass Freddy Poltz unweit der Dance Hall in einer abgelegenen Gasse gefunden wird, dringt nur bedingt an die breite Öffentlichkeit. Von den beiden Schüssen, die seinen Kopf tödlich trafen, erfährt man jedenfalls nichts. Die Röntgenaufnahmen bleiben unter Verschluss bei Mr. Etchieson, der stellvertretend die Untersuchungskommission des Brandfalles leiten wird.
So ist es Alma DeGeer Dunahew, die zehn Jahre ältere Schwester von Ruby, die gegen die Vertuschungen aufbegehrt. Sie kämpft gegen die Obrigkeit, allerdings zu einem hohen Preis. Bei der Familie Glenncross verliert sie ihre Arbeit als Haushälterin, wenig später kommt sie in eine Heilanstalt und kann erst spät ein Leben in Freiheit genießen. Wobei, genießen ist das falsche Wort. In bitterer Armut aufgewachsen muss sie sich mit ihren drei Söhnen eine baufällige Hütte teilen, die nur aus einem einzigen Raum besteht. Ehemann Buster ist Alkoholiker und daher fast nie zuhause, später, dem Alkohol entsagend, wird er für Glenncross den Chauffeur spielen, wenn sich dieser mit Ruby vergnügt.
Das Leben geht weiter, der nächste Krieg kommt, fordert seine Opfer und erst nach Jahrzehnten offenbart sich, was sich in jener schrecklichen Nacht in der Arbor Dance Hall tatsächlich ereignete. Alma wird es nie erfahren, allein dem Leser öffnet sich ein Abgrund.
Und die düstere amerikanische Provinz lebt noch immer
Daniel Woodrell gilt als Meister der White Trash Poesie, jemand der Experte für die düstere amerikanische Provinz ist. Seine tragischen Helden sind der Bodensatz der weißen Gesellschaft, jene die in bitterer Armut leben, zu Drogen und Alkohol greifen, kaum über Bildung verfügen, dafür aber ihre Waffe schnell zur Hand haben. Die Chance, die sie als Hinterwäldler nicht haben, werden sie nie nutzen. Daraus ergibt sich in den Werken von Woodrell zumeist eine Anklage gegen die Obrigkeit, die hingegen tun und lassen kann, was immer sie möchte.
Im vorliegenden Fall werden die gesellschaftlichen Gegensätze deutlich an Almas Familie und jener des Bankers Glenncross. Alma müht sich, ihre drei Söhne durchzubringen, nicht selten müssen die spärlichen Essensreste der Familie Glenncross dafür herhalten. Sohn Sidney wird seine Jugend nicht überleben, eine Krankheit, für deren Bekämpfung die Mittel fehlen, wird ihn dahinraffen. James, der älteste, zieht in den Krieg und so bleibt John Paul als einziger Sohn übrig. Er lebt zwischenzeitlich bei russischen Exilanten, die ihn wie einen Sohn aufnehmen. Später wird er eine Familie haben, sein Sohn Alek, dessen Großtante Ruby ist, wird als Ich-Erzähler zeitweise in Erscheinung treten.
Während Alma ums Überleben und später gegen die Honoratioren der Stadt kämpft, kennt Glenncross derartige Sorgen nicht. Er ist mit der biederen Corinne verheiratet, hat zwei Kinder und dennoch seine Frau niemals gänzlich nackt zu Gesicht bekommen. Dass er da der attraktiven Ruby verfällt, verwundert nicht, allerdings führt dies zu einer Reihe katastrophaler Entwicklungen.
Daniel Woodrell erzählt seine Geschichte episodenhaft, spannt dabei einen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis ins Jahr 1989. Es geht vogelwild hin und her, so dass man bei den ganzen Zeitsprüngen aufmerksam lesen muss, zumal der Autor mit Jahreszahlen äußerst zurückhaltend ist, was den Überblick mitunter erschwert. „In Almas Augen“ ist eine Familiensaga oder besser Familientragödie, in der auf das Leben der beiden genannten Familien zurückgeblickt wird. Eingestreut werden einige Personen, die nicht selten in den Flammen der Dance Hall ihr Ende finden; weitere Todesfälle nicht ausgeschlossen.
- Autor: Daniel Woodrell
- Titel: In Almas Augen
- Originaltitel: The Maid’s Version. Aus dem Englischen von Peter Torberg
- Verlag: Liebeskind
- Umfang: 192 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: Februar 2014
- ISBN: 978-3-95438-021-3
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Wertung: 12/15 dpt