Castle Freeman – Auf die sanfte Tour (Buch)


Russenmafia in Vermont

Auf die sanfte Tour
© dtv

In Grenada steht ein eindrucksvolles Anwesen auf einer Anhöhe, von vielen als Disneyland bezeichnet. Es ist ein Ferienhaus, dessen Dach zu reparieren ist; ein Fall für „Superboy“ Sean Duke, der allerdings auch als Kleinkrimineller im ganzen County bekannt ist. Das Domizil steht aktuell leer, der kleine Safe wirkt verlockend und schon ist es geschehen. Einen Tag später wird Sheriff Wing in die Gemeinde Ulster zu einem ungewöhnlichen Einsatz gerufen. Ein Mann wurde zusammengeschlagen und nackt an einen Baum gefesselt.

Manche Leute sagen alles Mögliche. Wenn man hinterher tot ist, war es nicht richtig.“
„Nein.“
„Nichts entwickelt sich, nichts wird besser, wenn man tot ist. Nur solange man am Leben ist, kann es besser werden.“
„Aber auch schlechter.

Wing vermutet einen Zusammenhang zwischen dem Einbruch und der gewalttätigen Auseinandersetzung, denn der Nackte ist ein Russe und das Ferienhaus gehört ebenfalls Russen; genauer der russischen Mafia. Der Nackte war der Erste, der den Safe zurückbringen sollte, allein Duke hatte etwas dagegen. Doch wo ein russischer Mafioso ist, sind andere nicht weit und so droht nicht nur dem ansonsten beschaulichen Fayetteville, wo Wing seinen Amtssitz hat, großes Ungemach.

Wing will Duke nicht verhaften, sehr zum Verdruss seines ehrgeizigen Deputy Lyle Keen, der selten einer Meinung mit seinem Vorgesetzten ist. Ein untergetauchter Kleinkrimineller, ein aufmüpfiger Deputy und Ärger mit der Russenmafia. Viel los in Vermont, aber was ist jetzt zu tun? Das, was Wing von seinem Vorgänger und großem Lehrmeister Wingate gelernt hat: Sich in Geduld üben.

Erster Fall für Sheriff Wing

Mit „Auf die sanfte Tour“ startet die Sheriff-Lucian-Wing-Reihe, die in Vermont angesiedelt ist, jenem Bundesstaat, der für seine großen Waldbestände bekannt ist. Und schon drängt sich der Verdacht auf, dass hier einige Hinterwäldler, Rednecks oder White trash people in die Handlung drängen. Dies ist, von Sean Duke abgesehen, jedoch nicht der Fall, es sei denn, man rechnet die eigenwilligen Arbeitsmethoden von Sheriff Wing in die Kategorie Hinterwäldler hinzu.

Hierzu ist es zunächst nicht unwichtig, dass amerikanische Rechtssystem zu kennen. Anders als Bundesbeamte, wie die Nebenfigur des Trooper Timberlake, wird ein Sheriff alle zwei Jahre gewählt. Er wird auch nicht vom Bundesstaat bezahlt, sondern erhält sein Budget von den Gemeinden, die im Zuständigkeitsbereich seines County liegen; im Fall von Wing sind es gleich siebzehn Gemeinden. Der vorliegende Roman endet unter anderem mit der Neuwahl des Sheriffs und es wird nicht zu viel verraten, wenn erwähnt wird, dass Deputy Keen seinen Vorgesetzten herausfordern wird.

Den Sheriff zu wählen ist in meinen Augen so, als würde man den Piloten wählen. Nicht dass sie mich falsch verstehen: Ich hab nicht gegen Wahlen. Die Mehrheit regiert. Demokratie ist eine wunderbare Sache. Aber hin und wieder übertreiben wir es damit.

Da man gewählt werden möchte, gilt es gut abzuwägen, wie man sein Amt ausübt. Keen gibt hier etwas klischeehaft den Polizisten in Rambo-Manier. Dienstwagen, Uniform, Pistole, jederzeit einsatzbereit und mit dem Kopf durch die Wand. Von all dem will Wing nichts wissen, denn seine Arbeitsweise entspricht dem deutschen Buchtitel. In der Ruhe liegt die Kraft, niemanden wehtun, alles ist im Fluss und wird seinen Weg finden. Im Fall von Sean Duke darf man dies zwar bezweifeln, aber am Ende wird Wing zumindest teilweise Recht behalten und für die gewünschte Ruhe sorgen.

Das ist ein junger Mann mit Zukunft, oder? In Ausübung seines Dienstes verletzt. Man sagt, er kriegt eine Auszeichnung.“
„Sagt man.“
„So was macht sich gut in den Zeitungen. Das macht die Leute aufmerksam. Auf einen jungen Mann, der es zu was bringen will, meine ich.“
„Ja.“
„Das mögen die Wähler.“
„Ja.“
„Das zeugt von Tatkraft. Und Initiative. Er ist nicht wie diese alten Säcke, die nur herumsitzen und den Dingen ihren Lauf lassen.“
„Ja.“
Initiative. Das mögen die Wähler.“
„Ja.“
„Obwohl … Es zeugt vielleicht von Initiative, aber nicht von Verstand. Man muss schon ganz schön blöd sein, um sich in eine solche Situation zu bringen, oder? Fünf gegen einen? Ohne Unterstützung?

Nach „Auf die sanfte Tour“ erschien 2020 die Fortsetzung „Der Klügere lädt nach“ sowie 2021 der dritte Band „Herren der Lage“. Die vorliegende Geschichte ist ähnlich schlank wie das Buch selbst und schnell erzählt. Castle Freeman erlaubt daher seinem Protagonisten einige Erinnerungen, in denen er auf recht eigenwillige Art gekonnt zu unterhalten weiß. Wer lakonische Texte mag, ist hier genau richtig. Wenige Worte zu viel, Dialoge trocken und präzise gesetzt, dazu die – sagen wir – „schräge Arbeitsmoral“ von Wing. Jedenfalls sollte es unüblich sein, die Verbrecher laufen zu lassen.

Wer ungewöhnliche, mitunter Dialoglastige Romane der Kategorie Noir mag, darf gern zugreifen.

  • Autor: Castle Freeman
  • Titel: Auf die sanfte Tour
  • Originaltitel: All that I have. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
  • Verlag: dtv
  • Umfang: 192 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: August 2018
  • ISBN: 978-3-423-14678-4
  • Produktseite


Wertung: 12/15 dpt


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