Alice Oseman – Nothing Left for Us (Buch)

© Loewe

“Nothing left for Us” von Alice Oseman ist ein Buch, das mich mitgenommen hat. Ich habe wirklich nur wenige Bücher gelesen, bei denen ich wirklich mit den Figuren mitfühlen und auch über meine eigenen Gefühle und Erfahrungen nachdenken musste. Beim Lesen wünschte ich mir deswegen oft selbst wieder sechzehn oder siebzehn zu sein, manche Erfahrungen nochmal zu machen oder trauerte Erfahrungen nach, die ich selbst nicht erlebt habe.

“Nothing left for Us” von Alice Oseman ist 2022 durch den Loewe Verlag im Deutschen erschienen und thematisiert Leistungsdruck, Freundschaften und toxische Familienbeziehungen.

Frances hat zwei Persönlichkeiten – einmal die erfolgreiche, ehrgeizige, langweilige Schul-Frances, die Schülersprecherin ist und in Oxford englische Literatur studieren will und einmal die nerdige, bunte Leggings-tragende und voll auf University City (einem Sci-Fi Podcast, bei dem ein*e nonbinäre Person abgespacete Abenteuer in ihrer Universitätsstadt erlebt) abfahrende Zuhause-Frances, die keine echten Freunde hat. Frances ist einsam, hat niemanden außer ihrer Mutter, der sie sich anvertrauen kann und hat ihre Identität und Schullaufbahn gesellschaftlichen Erfolgsanforderungen gewidmet, ohne zu wissen, was sie wirklich selbst von ihrem Leben will.
Erst als sie Alend kennenlernt – ihr Nachbar und Zwillingsbruder ihrer ehemaligen besten Freundin – lernt sie, verletzlich gegenüber anderen zu sein und so echte Freundschaften zu knüpfen und sich zu fragen, was sie eigentlich selbst in ihrem Leben will.
Als sie gemeinsam mit ihren Freunden Alend aus den Fängen seiner toxischen Mutter retten müssen, lernen sie zusammen, dass Familie sein, nicht an Blutsverwandtschaft gebunden ist und das Leben doch mehr zu bieten hat, als ihnen von der Schule vorgekaut wurde.

Die Handlung war süß, berührend, unterhaltsam und durchgehend relatable (relatable = mit der persönlichen Situation vergleichbar).

Nicht nur waren der Leistungsdruck in der Schule, das Gefühl eine Fassade in der Öffentlichkeit zu tragen und die Einsamkeit, keine richtigen Freunde zu haben, für mich absolut nachvollziehbar, auch war die Erfahrung dem folgen zu wollen, was als das Ideal dargestellt wird – also auf eine tolle Uni gehen, was wichtiges zu Studieren und gutes Geld zu verdienen – etwas, wonach ich sogar mein Leben ausgerichtet habe. Wie Freundschaften, neue Erfahrungen und vielleicht sogar Planänderungen in dieses Ideal passen, wurde uns beiden nie erklärt.

Alice Oseman hatte aber nicht die Absicht, Schule als etwas darzustellen, das durchweg böse ist: Eine der Antagonistinnen der Geschichte war die strenge Schuldirektorin, die aus einem bildungsfernen Milieu stammte und ihre Karriere durch Bildung hart erkämpft hat.
Die Figuren und insbesondere Frances und ihre Perspektive waren authentisch und nachvollziehbar.

Frances hat einen enormen Ehrgeiz, mit dem sie Ziele verfolgt, die nicht ihre eigenen sind. Statt auf eine Kunstakademie gehen zu wollen, da Zeichnen und Grafikdesign ihre Leidenschaft sind, fokussiert sie sich bloß auf ihre schulische Karriere, verbirgt ihre Identität in der Schule, um ihr Schülersprecherinnenimage aufrechtzuerhalten und hat keine richtigen Freunde.’
Ihr Rivale Daniel wiederum will eine akademische Karriere, obwohl er unter den gleichen Problemen wie Frances leidet – anders als Frances muss er sich aber auch gegenüber seiner Familie behaupten, die ihn in das Familiengeschäft einbinden will.’
Alend ist ebenfalls ein Top-Schüler, obwohl er es gar nicht sein will. Anders als Frances und Daniel wird er aber zu seinen Leistungen von seiner Mutter gezwungen, was sogar so weit geht, dass sie Dinge zerstört, die ihm viel bedeuten und ihn von seiner Zwillingsschwester entzweit.
Raine – eine von Frances Schul-Freundinnen – wiederum interessiert sich gar nicht für die Schule und wird von ihrem Umfeld dazu gezwungen zu performen, obwohl sie lieber ihre anderen Stärken entdecken will. Stattdessen wird ihr ständig von ihrem Umfeld eingetrichtert, dass sie nicht gut genug ist.

Aber auch die anderen Figuren waren authentisch, lebendig und vielfältig – das heißt aber nicht, dass sie alle tolle Menschen waren: Wir hatten oberflächliche Figuren, die anderen ihre Normen aufdrücken wollten und nicht über ihren eigenen Horizont blicken konnten, kleine Bösewichte, die eigentlich nur Gutes mit ihrem Handeln bezwecken wollten oder einfach durchweg normale Personen, die glücklich genug waren und nicht viel hinterfragten. Gerade dieser Mix macht die Handlung und Welt von “Nothing Left for Us” aber so authentisch! Nicht jeder Mensch sticht ständig heraus und Menschen leben ihr Leben, ohne sich um unsere Protagonisten zu drehen.

Der Schreibstil war dabei fesselnd: Nicht, weil er spannend und actionreich war, sondern weil Frances unsere Erzählerin war, die uns sogar stellenweise ansprach. “Nothing Left for Us” wirkte deswegen nicht wie ein einfaches Buch mit einer berührenden Geschichte, das wir gerade lesen, sondern wie ein intimes Gespräch mit einer Freundin, die uns an ihren verletzlichsten und privatesten Momenten teilhaben lässt. Das war wirklich schön.

Am meisten mochte ich aber zwei Dinge: Die Beziehung zwischen Frances und Alend und die Repräsentation von Queerness.

Frances als Erzählerin hat schnell klargemacht, dass ihre Freundschaft mit Alend niemals romantisch sein wird. All ihre Abenteuer und Erfahrungen, ihre nerdigen Gespräche und süßen Verabredungen waren deswegen niemals davon beeinflusst, dass sie sich etwas Romantisches oder Sexuelles voneinander erhofften, sondern weil sie sich voneinander gesehen und verstanden gefühlt haben und einfach eine schöne Zeit miteinander verbringen wollten. Das ist nicht nur für sich wertvoll und schön, sondern auch wichtig, wenn wir sehen, wie sonst Jugendbücher mit Liebe, Körperlichkeit und Intimität umgehen.

Liebe ist oft ein Werkzeug, um zwei Figuren aneinander zu binden, um durch mögliche romantische Gefühle Leser*innen an das Buch zu binden, ohne, dass die Figuren wirklich eine Beziehung zueinander aufgebaut haben und echte Vertrautheit miteinander erfahren.

Stattdessen wurden Frances und Alends Liebe zueinander als etwas Zierliches und Schönes dargestellt. Sie sorgten sich umeinander und fragten sich, wie sie einander eine Freude bereiten konnten. Währenddessen durften wir sie dabei begleiten, wie aus anfänglich schüchternen Chat und dem verzweifelten Suchen nach Gründen, um miteinander Zeit zu verbringen können gemeinsames Backen, Podcast einreden und gemeinsames albernsein wurde.

Auch der Umgang mit Queerness war schön.

Queerness wird immer mehr Teil von Jugendliteratur – sei es durch eine Nebenfigur, die queer ist (ohne, dass die Erwähnung relevant für die Handlung war) oder Diskussionen, die eigentlich nichts mit der Handlung zu tun haben, bei denen erwähnt wird, dass auch queere Personen normal sind. Meistens ist das gut gemeint und insgesamt sorgt das dafür, dass Queerness entstigmatisiert wird. Trotzdem wirkt es so, als würde man diese Figuren für eine Quote hinzufügen, statt diese Figuren wirklich Teil der Handlung werden zu lassen oder sich überhaupt mit Queerness auseinanderzusetzen.
Bei “Nothing Left for Us” war das aber überhaupt nicht der Fall. Statt Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit wie ein Add-On von Figuren zu behandeln, hat Queerness die Figuren in ihrem Handeln oder ihren Motivationen beeinflusst oder wurde als selbstverständlich akzeptiert, ohne dass Alice Oseman nochmal extra klarmachen wollte, dass sie Queerness unterstützt. Das bedeute auch, dass sie ihren Figuren keine Label aufgedrückt hat oder ihnen queere Identitäten erzwang.

Genauso sollte nämlich mit Queerness, aber auch asiatischen und BIPoC-Figuren umgegangen werden: Die Figuren sind nicht “normal” mit Extras, sondern ihre sexuelle und geschlechtliche Identität, aber auch ihre Betroffenheit durch systematische Unterdrückungen und möglichen kolonialen Erben beeinflusst, wie sie die Welt um sich herum wahrnehmen, welche Ziele sie verfolgen, welches Selbstverständnis die Figuren von sich haben und wie sie sich verhalten.

Insgesamt ist “Nothing Left for Us” ein Buch, das ich allen empfehlen will. Es ist süß und berührend, spricht aber verdammt wichtige Themen an, von denen gerade Jugendlichen betroffen sind, die sie aber bis in das Erwachsenenalter prägen.
Es werden soziale Normen, Leistungsansprüche und toxische Familien thematisiert und gezeigt, dass man nicht bereits mit sechzehn wissen muss, was man vom Leben will und auch erst in Ruhe herausfinden kann, was einem gefällt.
Deswegen denke ich, dass gerade Teenager viel von “Nothing Left for Us” mitnehmen können, aber auch Leute, die schöne Freundschaften lieben.

  • Autor: Alice Oseman
  • Titel: Nothing Left for Us
  • Originaltitel: Nothing Left for Us
  • Übersetzer: Anne Brauner
  • Verlag: Loewe
  • Erschienen: 2022
  • Einband: Klappenbroschur
  • Seiten: 448
  • ISBN: 978-3-7432-1220-6
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite 
  • Erwerbsmöglichkeiten


    Wertung: 14/15 dpt

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