Mechtild Borrmann – Der Geiger (Buch)


Das Grauen des Gulag, damals wie heute

Der Geiger
© Knaur

Mai 1948. Tschaikowsky-Konservatorium, Moskau. Der berühmte Geiger Ilja Grenko hat sein Konzert soeben beendet, das Publikum ist begeistert. Für Grenko selbst hingegen beginnt ein Alptraum, denn unmittelbar nach Konzertende wird er verhaftet und in die berüchtigte Lubjanka, das zentrale Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes, gebracht. Was war geschehen? Im April hatte Grenko gefeierte Auftritte in Paris und London, demnächst sollte ein Auftritt in Wien folgen. Doch für Österreich stellte er einen Antrag, demnach ihn seine Frau Galina und die beiden Söhne begleiten sollten. Für den MWD, das Innenministerium, ein klarer Fall von versuchter Landesflucht. Nach mehreren Tagen im Gefängnis und einer kurzen Folter unterschreibt Grenko ein Geständnis, im Gegenzug soll seine Familie unbehelligt bleiben. Grenko wird zu zwanzig Jahren Lagerhaft verurteilt und landet in Workuta, wo er im Kohlebergbau unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten muss.

Wann hatte er es begriffen? Es war nie ein konkreter Gedanke gewesen, eher eine Ahnung, die ihm flüsternd und sacht diese letzte Zuversicht nahm.

Es würde keinen Prozess geben!

Um den Schein zu wahren, berichten die Medien von Grenkos Flucht nach Wien. Selbstredend kann die Familie eines Landesverräters nicht verschont bleiben und so wird wenige Tage nach Grenkos Verhaftung seine Frau mit ihren Söhnen verbannt. Am Ende trifft es sie genauso brutal wie ihren Mann. Sie landen in Karanga, einer kleinen Stadt in der kasachischen Steppe, wo Galina Arbeit in einer Wäscherei findet. Die Winter sind lang und bitterkalt, Lebensmittel chronisch knapp und die Arbeit ist ebenso mühsam wie gesundheitsschädlich.

Juli 2008. Köln. Sascha Grenko, Enkel von Ilja, erhält einen Anruf von seiner Schwester Viktoria aus München. Knapp zwanzig Jahre ist es her, da wurden sie als Kinder getrennt. Seitdem gab es keinen Kontakt mehr, doch jetzt benötigt sie seine Hilfe. In München angekommen, erfährt Sascha, dass seine Schwester in einem Hotel arbeitet, wo sie mit Klavierspielen Geld verdient. Sascha setzt sich an die Bar und muss entsetzt erleben, wie plötzlich ein Schuss fällt und Viktoria tödlich trifft. Er versucht dem Mörder hinterherzujagen, was ihn für die Polizei verdächtigt macht. War er ein Komplize? Die Lage wird für Sascha bedrohlich, denn er war als Jugendlicher durch diverse Straftaten polizeibekannt und saß im Gefängnis.

Plötzlich erscheinen die lang zurückliegenden Unfälle seiner Eltern und seines Onkels in neuem Licht und die von Viktoria hinterlassenen Unterlagen lassen erahnen, dass die Geschichte seiner Großeltern ganz anders verlief. Alles gerät aus den Fugen, ein Mörder läuft frei herum und Sascha wird eines klar: Er muss nach Russland, um die Rätsel zu lösen.

Beklemmender Mix aus Zeitgeschichte, Familiendrama und Krimi

Workuta. Eines der brutalsten Zwangsarbeiterlager des Gulag, für mehrere zehntausend Insassen angelegt. Insgesamt eine Millionen Inhaftierte, von denen ein Viertel aus verschiedenen Gründen umkam. Die Arbeitsbedingungen im Bergbau sind kaum auszuhalten, für einen sensiblen Musiker gleich gar nicht. Immerhin kann sich Grenko damit trösten, dass er durch sein Geständnis seine Familie geschützt hat. Ein dramatischer Irrtum in einer von tragischen Irrtümern reichhaltigen Geschichte. Nach und nach deckt die Bestsellerautorin Mechtild Borrmann (Deutscher Krimi Preis 2012 für „Wer das Schweigen bricht“) ein unglaubliches Lügenkonstrukt auf, in dem viele Protagonisten Schuld auf sich laden, wenngleich sie eigentlich gar nicht schuld sind. Es ist beeindruckend, wie facetten- und wendungsreich die Geschichte zwischen 1948 und den Folgejahren sowie jenen Ereignissen in der Gegenwart, gemeint ist das Jahr 2008, hin und her pendelt.

Wir existieren außerhalb von Moral und menschlichen Regeln, mir scheint gar, dass unser verzweifelter Wunsch zu überleben uns tötet, lange bevor wir den letzten Atemzug getan haben. Ich habe nicht die Kraft, mich zu widersetzen. Aus mir wird immer mehr einer, für den ich nur Verachtung habe.

Erzählt wird in drei Perspektiven. Der Weg von Grenko ins Arbeitslager, Galinas Leben in der Verbannung sowie Saschas Flucht vor der Polizei und der Suche nach dem Mörder seiner Schwester. Und dann gibt es da noch eine Stradivari aus dem 18. Jahrhundert. Ein Meisterwerk, das einst als Geschenk des Zaren in die Hände der Grenkos fiel. Ein unheilvolles Geschenk, welches später fast der gesamten Familie zum tödlichen Verhängnis wird.

Du brauchst nicht hundert Rubel, sondern hundert Freunde. So sagt man bei uns.

Eindringlich, beklemmend und vor brutalen Szenen nicht zurückschreckend, beschreibt Borrmann meisterhaft das „Leben“ in Workuta und Karanga. So muss Zeitgeschichte in einem Roman erzählt werden. Nicht als weichgespülte Folklore, sondern wie es tatsächlich war. Im vorliegenden Beispiel menschenverachtend. Dass die unfassbaren Torturen von Ilja und Galina beim Lesen körperliche Schmerzen bereiten können muss man aushalten. Für Behaglichkeit ist hier kein Platz. Wie barbarisch die Schergen von Stalins Unrechtsstaat agieren, wird eindringlich dargestellt und so leben alle hiervon Betroffenen mit Schuldgefühlen, für die es letztlich keinen Anlass gibt. Man hat den Lügen des Systems vertraut, doch konnte man es besser wissen? Eine altbekannte Frage, die zum Nachdenken anregt wie überhaupt der gesamte Roman eine langanhaltende Wirkung entfaltet. Nach der Lektüre kann man die Ereignisse kaum verdrängen. So soll, so muss es sein.

Und der Erzählstrang mit Sascha? Dieser ist ein actionreicher Thriller und einmal mehr zeigt die Autorin, wie man Zeitgeschichte, Familiendrama und Krimi bestens miteinander kombinieren kann.  

Weitere Rezensionen zu Mechtild Borrmann:

  • Autorin: Mechtild Borrmann
  • Titel: Der Geiger
  • Verlag: Knaur
  • Umfang: 368 Seiten
  • Einband: Taschenbuch
  • Erschienen: August 2017
  • ISBN: 978-3-426-65444-6
  • Produktseite


Wertung: 13/15 dpt


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