Wenn das Unglück Platz nimmt
Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich.“ Mit diesem berühmten ersten Satz beginnt Leo Tolstoi seinen Roman „Anna Karenina“.
In Marion Karausches Debütroman „Der leere Platz“ liegt das Unglück einer Familie in der psychischen Erkrankung des ältesten Kindes begründet. Karausche schildert die jahrelange Leidensgeschichte ihrer Protagonistin Marlen, die als Mutter um ihren an Schizophrenie erkrankten Sohn Kai kämpft und sich darüber selbst fast verliert.
Von außen betrachtet führt Marlen ein beneidenswertes Leben. Sie ist wohlhabend, glücklich verheiratet, hat zwei Kinder und jede Menge Freizeit, in der sie sich liebevoll um ihre Familie kümmert. Auch die Beziehung zu ihrem Sohn Kai ist anfangs sehr innig. Doch als bei ihm erste Symptome auftauchen und er sich plötzlich zurückzieht, gerät ihre heile Welt ins Wanken.
Die Autorin lässt ihre Leser:innen an allen Höhen und Tiefen teilhaben. Eindringlich schildert sie das Anfangs-nicht-verstehen-können, das Nicht-wahrhaben-wollen, das Kampf-annehmen, das verzweifelte Auf-und-ab-zwischen-Hoffnung-und-Verzweiflung.
Karausche kommt dabei ganz nah an ihre Protagonistin heran. Trotzdem verliert sie sich nie in einen jammernden Tonfall. Sie teilt jede Gefühlslage ihrer Hauptfigur mit, ohne dabei um Mitleid zu buhlen oder irgendeinen Voyeurismus zu bedienen. Die Würde ihrer Figuren bleibt immer unangetastet.
Das Alles gelingt ihr durch eine sehr klare, fast nüchterne Sprache, die umso eindringlicher und ehrlicher wirkt, je schonungsloser sie mit ihren Figuren umgeht. Obwohl die unheilvolle Richtung, die die Handlung nimmt, sehr früh sehr klar ist, bleibt der Roman spannend. Denn Karausche lässt in ihrer Intensität, mit der sie die emotionale Achterbahnfahrt ihrer Hauptfigur beschreibt, nie nach.
Auch idealisiert Karausche die Mutter nicht. Ihre Zweifel und Irrtümer stehen gleichberechtigt neben ihren falschen Hoffnungen und ihrer aufopferungsvollen Liebe zum Sohn. Karausche porträtiert eine Frau, die die Erkrankung ihres Kindes zum Mittelpunkt des eigenen Lebens macht, mit fatalen Folgen für ihre Umgebung und für sich.
Doch trotz der fatalen Lage, die im Laufe der Handlung immer dramatischere Züge annimmt, wird der Roman zu keinem Zeitpunkt von Hoffnungslosigkeit dominiert. Die Autorin gibt ihre Hauptfigur an keinem Punkt auf. Das spürt man während der Lektüre und genau das hält die Spannung bis zur letzten Seite aufrecht. Und genau darin liegt der entscheidende Funken Hoffnung, in diesem insgesamt extrem erschütternden Buch. Klare Leseempfehlung!
- Autorin: Marion Karausche
- Titel: Der leere Platz
- Verlag: Kein & Aber Verlag
- Erschienen: September 2021
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 256 Seiten
- ISBN: 978-3036958514
Wertung: 13/15 dpt