Wie definiert man Heimat
Als Kurzroman betitelt der Kampenwand Verlag den Roman seines Autors Kaveh Ahangar. Kurz im Sinne des Umfangs von unter 200 Seiten ist der schmale Band tatsächlich. Aber ansonsten ist dieses Etikett perfektes Understatement. Denn dieser als Kurzroman bezeichnete autofiktionale Text lotet beeindruckend präzise die emotionalen Tiefen eines sehr bewegten Lebens aus.
Ahangar stellt seinem Roman die Bemerkung voran, dass die tagebuchähnlichen Geschichten und Eindrücke auf wahren Erlebnissen von Emigranten beruhen. Aber auch ohne diese Erklärung entsteht von Beginn an der Eindruck großer persönlicher Nähe. Das Schicksal der aus der Ich-Perspektive heraus erzählenden Hauptfigur ähnelt auffallend der Biografie des Autors.
Ahanga hat seinen Roman in zwei Abschnitte unterteilt. Der erste Teil beschreibt das Leben des Erzählers im Iran, der zweite Teil beginnt mit der Ankunft in Deutschland.
Zu Beginn ist der Erzähler noch ein Junge. Die Erinnerungen sind kurz, aber dafür nicht weniger intensiv. Ahangar beschreibt ein Heranwachsen innerhalb schwieriger familiärer Verhältnisse: Ein gewalttätiger Vater, eine zur Vernachlässigung neigende emotionslose Mutter, später der brutale zuschlagende Lehrer. Hinzu kommen die Auswirkungen auf den Alltag durch die Machtübernahme der Mullahs und ihre Repressionen sowie der blutige Krieg mit dem Irak.
„Der Krieg hatte uns erreicht. Er war genau vor unserer Haustür.“
Seite 41
Ahangar begeistert durch seine sprachliche Finesse. Mit ebenso knappen wie prägnanten Formulierungen bringt er Wesentliches auf den Punkt. Geschickt kombiniert er die Schilderung grausamer Begebenheiten mit humorvollen Bemerkungen, um durch den Kontrast dem Erzählten zusätzliche Tiefe zu verleihen. Er stellt den Tod in direkte Nachbarschaft zu den Banalitäten des Alltags, wodurch er Ausmaß und Konsequenz des täglichen Sterbens ins Unerträgliche steigert.
Der Junge ist zehn als er mit seinem Vater vor dem Krieg aus dem Iran nach Deutschland flieht. Die Mutter bleibt zurück. Für den Erzähler beginnt ein neues Leben.
„Ich trat über die Schwelle und atmete Deutschland.“
Seite 63
Mit der Ankunft in Deutschland beginnt auch der zweite Teil des Romans. Schlagartig ändern sich die Themen. Krieg und politische Unterdrückung werden abgelöst durch Heimweh, Kulturschock und den nie völlig versiegenden Schmerz fremd zu sein.
In kurzen Kapiteln beschreibt Ahangar seine neue Heimat und deren Menschen. Manche seiner Beschreibungen amüsieren, manche entlarven schonungslos Missstände und Schwächen. Doch obwohl die Erlebnisse des jungen Protagonisten exemplarisch für das Schicksal vieler Emigranten stehen, hält Ahangar an der persönlichen Ebene fest. Die aufgezeigten Beispiele bewahren ihren individuellen Charakter. Immer steht ein Mensch mit seinem ganz persönlichen Schicksal im Mittelpunkt. Ein Mensch, der durch seine Flucht und das Leben in einer neuen Umgebung über die Jahre hinweg den Bezug zu den eigenen Ursprüngen verliert ohne jemals vollständig anzukommen.
Am Ende lässt Ahangar seinen Protagonisten zusammenfassen, was Deutschsein eigentlich bedeutet. Seine Liste ist eine teils trotzig teils (selbst)ironisch in den Raum geworfene Ansammlung von Klischees und Zufälligkeiten. Nationale Zugehörigkeit, scheint er damit zu sagen, ist nicht mehr als eine Fiktion, ein willkürlich entstandenes und aus Gewohnheiten gebautes Konstrukt.
Und so endet der Roman versöhnlich. Der Protagonist ist angekommen. Heimat ist das Gefühl, die Gegensätze verschiedener Kulturen nicht überwunden aber miteinander verbunden zu haben. Eine enorme Leistung für ein Buch, das sich selbst als Kurzroman bezeichnet.
„Jahrelang wollte ich es nicht wahrhaben, doch jetzt ist es mir bewusst. Hier ist meine Heimat. Ich bin ein deutscher Staatsbürger.“
Letzter Satz, Seite 170
- Autor: Kaveh Ahangar
- Titel: Senf mit Safran
- Verlag: Kampenwand Verlag
- Erschienen: Oktober 2022
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 148 Seiten
- ISBN: 978-3986600747
Wertung: 13/15 dpt