Ein englisches Verbrechen
Lord Warbeck liegt im Sterben und hat anlässlich des Weihnachtsfestes seine engsten Angehörige und Freunde eingeladen. So findet sich in dem abgelegenen Herrenhaus Warbeck Hall dessen Sohn Robert ein, Führer der faschistischen Liga für Freiheit und Gerechtigkeit; sein Vetter Julius, Schatzkanzler der Regierung; dessen Leibwächter Sergeant Rogers; Lady Camilla, ehemalige Verlobte von Robert; Mrs. Carstairs, deren Mann wohl designierter Nachfolger von Sir Julius wäre; Dr. Bottwink, jüdischer Historiker und Antifaschist; sowie als Personal Butler Briggs und dessen Tochter Susan. Neun Personen, mehr braucht es nicht.
„Von wem?“
„Vom Didder – von dem Fluss, den man überqueren muss, um ins Dorf zu gelangen. Als wir beim letzten Mal Schneemassen wie diese hatten – das war noch zur Zeit des früheren Lords -, waren wir drei Tage lang aufgrund des Hochwassers abgeschnitten, als das Tauwetter einsetzte.
Angesichts der ausgewählten Gäste und insbesondere wegen Robert ist die Stimmung von Beginn an aufgeheizt. Eigentlich wollte dieser ein großes Geheimnis verkünden, stattdessen bricht er vor den Gästen am Weihnachtsabend zusammen und stirbt an einer Zyankali-Vergiftung. Zwar hält sich die Trauer in engen Grenzen, dennoch sind die Gäste verständlicherweise beunruhigt, denn die Mörderin oder der Mörder muss einer von ihnen sein. Auf die örtliche Polizei aus dem nahegelegenen Dorf Markshire darf man vorerst nicht hoffen, denn zu allem Übel ist man plötzlich eingeschneit. Prompt gibt es einen zweiten Todesfall.
Klassiker in neuer Übersetzung
Neun Personen in einem abgelegenen Haus, welches von der Außenwelt komplett abgeschnitten ist. Der Mörder muss also zwingend unter den Gästen sein. Soweit, so gut. Ein hinlänglich bekanntes Setting, etliche Male gelesen. Es ist aber zu beachten, dass „Mord auf dem Landgut“ im Original bereits 1951 erschienen ist. Da galt der in Vergessenheit geratene Cyril Hare (1900-1958) noch als Meister des klassischen Krimis. Erstmals erschien der Roman übrigens unter dem Titel „Mord made in England“ bei Diogenes im Jahr 1993. Jetzt, passend zur Jahreszeit, ist der „Weihnachtskrimi“ in gebundener Ausgabe mit Lesebändchen bei Lübbe erschienen.
„Und doch ist es passiert.
Die Rahmenbedingungen sind bekannt, der Schreibstil wirkt mitunter etwas altbacken, da sehr viel Zeit für belangloses Geplänkel draufgeht. Gleichwohl ist Aufmerksamkeit beim Lesen gefragt, denn insbesondere der kauzige Dr. Bottwink irritiert gern mit seltsam anmutenden Formulierungen und plötzlichen Themenwechseln. Er ist der einzige Ausländer, wie mehrfach betont wird, in dieser ansonsten very british besetzten Runde. Die Figuren sind in ihren Schrullen pointiert, aber nicht überzeichnet dargestellt. Schön zu lesen sind die Auftritte des mitunter indignierten Butlers Briggs, wenn beispielsweise gegen die Etikette verstoßen wird. Selbstredend lässt er sich als Profi seine Verärgerung optisch nicht anmerken.
Zu bemerken ist, dass zwar Sergeant Rogers vorübergehend seine Aufgabe als Leibwächter vernachlässigt und stattdessen in die Rolle des Ermittlers tritt, was ihm als Beamten von Scotland Yard in dieser Ausnahmesituation naturgemäß zusteht. Jedoch findet nicht Rogers die Lösung, sondern Dr. Bottwink, der Historiker. Dies überrascht angesichts des Originaltitels „An English Murder“ nicht, denn dieses Verbrechen ist ursächlich wohl so nur in England möglich und hat etwas mit dem Werdegang von William Pitt der Jüngere gemein, der 1806 verstarb. Der vorliegend gewählte Titel „Mord auf dem Landgut“ ist vor diesem Hintergrund – sagen wir – unglücklich. Wer ab und an gerne die alten Krimiklassiker liest, darf hier bei einem fairen Buchpreis zugreifen. Schön, dass Cyril Hare wiederentdeckt wurde!
- Autor: Cyril Hare
- Titel: Mord auf dem Landgut
- Originaltitel: An English Murder (erstmals erschienen 1951). Aus dem Englischen von Dr. Holger Hanowell
- Verlag: Lübbe
- Umfang: 255 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: September 2022
- ISBN: 978-3-404-18922-9
- Produktseite
Wertung: 11/15 dpt
