Karl Rittner – Die Toten von Wien (Buch)
Serienmord in unruhiger Zeit
Der große Krieg ist zu Ende, Adelstitel gehören der Vergangenheit an. Alexander Baran, der 1916 nach einer Schussverletzung nicht mehr an die Front zurückkehren muss und seitdem als Kommissär bei der Kriminalpolizei arbeitet, heißt eigentlich Sandor von Baranyi, den Titel Baron nicht zu vergessen. Gemeinsam mit dem Bezirksinspektor Florian Meisel, der ihn einst in den Polizeidienst einführte, wird er am 17. März des Jahres 1922 an den Donaukanal gerufen, wo in unmittelbarer Nähe zum Fischmarkt eine Frauenleiche am Flussufer gefunden wurde. Die Füße der jungen Frau lassen den Gerichtsmediziner Dr. Alfred Bernstein vermuten, dass es sich um eine Tänzerin handeln könnte, weswegen Baran sich auf den Weg zur Oper macht, wo tatsächlich gleich zwei junge Balletttänzerinnen nicht zur Generalprobe erschienen sind. Unmittelbar vor der Oper stößt Baran jedoch zunächst auf eine Menschentraube, ein älterer Mann namens Oskar Veith, Mitarbeiter in der Hofburg, wurde von einer Straßenbahn erfasst. Laut einem Fiakerfahrer wurde er absichtlich von einem Mann gestoßen.
Bei der toten Frau handelt es sich Martha Halpern, die laut ihrer besten Freundin Fanny Pinsker am Vorabend mit dem Studenten Mendel Hirsch verabredet war. Dieser wird festgenommen und wenig später in seiner Wohnung ein blutiges Brecheisen sowie Diebesgut gefunden. Doch die Ermittler freuen sich zu früh, denn schon bald wird an gleicher Stelle am Donaukanal eine weitere Leiche gefunden. Und plötzlich gerät ausgerechnet der sympathische Dr. Bernstein in Verdacht.
Interessante Hauptfigur, der man gern wiederbegegnen würde
Karl Rittner, der im wahren Leben anders heißt, hat einen vielschichtigen Krimi geschrieben. Die Folgen des Krieges sind noch überall sichtbar, die rund zwei Millionen Einwohner Wiens leben überwiegend in Armut. Da macht der 2. Bezirk, in dem überwiegend Menschen jüdischen Glaubens leben, keine Ausnahme. Baran erlebt nahezu täglich einen für ihn unverständlichen Groll gegen die Juden; geradezu einen Hass, der selbst in den Reihen der Polizei weit verbreitet ist; bei seinem ungeliebten Vorgesetzten, Oberkommissär Emmerich Zeller, angefangen. Dieser stammt aus einfachen Verhältnissen und ersetzt seine berufliche Ahnungslosigkeit durch arrogantes Auftreten. Aber selbst Meisel lässt sich mitunter zu grenzwertigen Aussagen über Juden hinreißen und muss sich mehr als einmal zusammennehmen, um nicht auch noch über den Adel – und damit Baran – zu lästern.
Der Plot reicht zurück in den November des Jahres 1913, wo Barans geliebte Schwester Szonja verschwindet. Ein Ereignis, welches ihm bis heute schlaflose Nächte bereitet, schließlich gibt es ja noch einen kleinen Funken Hoffnung, angesichts der Ungewissheit, was damals geschah. Sie verschwand unmittelbar nach einem Jagdausflug ihres Mannes Graf von Waldstetten, der niemand Geringeren als Erzherzog Franz Ferdinand begleiten durfte. Wenige Monate später stirbt dieser bei einem Attentat in Sarajewo, ein Krieg steht bevor und Barans Vater verzweifelt derart, dass er seine Frau und anschließend sich selber erschießt. Baran hat also ein gewaltiges Päckchen zu tragen, ist aber dennoch ein grundsätzlich sympathischer Ermittler, dem man gerne wieder begegnen würde. Das Ende des Romans legt zudem eine Fortsetzung nahe.
Gelungen ist auch die Darstellung der Stadt Wien als Hintergrundkulisse, zu der es mitunter kleinere Ausflüge in deren Stadtgeschichte gibt. Die Jagd nach dem Serienmörder, es wird noch ein weiteres Opfer geben, ist gut beschrieben, wobei die Ermittler nicht selten mit ihren Vermutungen falsch liegen. Wer eine kriminelle Zeitreise in das Wien des Jahres 1922 machen möchte, wird hier gut unterhalten. Gerne mehr davon.
- Autor: Karl Rittner
- Titel: Die Toten von Wien
- Verlag: Goldmann
- Umfang: 416 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: September 2022
- ISBN: 978-3-442-49090-5
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Wertung: 12/15 dpt