Alternativ # 5 – Hässliche Hexen und heldenhafte Helden – Woher kommen unsere Märchen?


Alternativ # 5 – Hässliche Hexen und heldenhafte Helden – Woher kommen unsere Märchen?

Am Anfang habe ich etwas Anderes für diese Kolumne geplant – ich wollte darüber schreiben, wie Frauen Märchen dazu genutzt haben, sich gegenseitig zu schützen und aufzuklären. Zum Schluss wäre ich vielleicht darauf eingegangen, wie sich Frauen heutzutage Geschichten zurückerobern, um Deutungshoheit über ihre Erfahrungen zu gewinnen. Doch bei meiner Recherche habe ich etwas anderes gefunden, was wir uns zuerst anschauen müssen – und zwar den Ursprung unserer modernen europäischen Märchen und wieso er so perfide sind.

Wer kennt sie nicht? Der Froschkönig, Hänsel und Gretel, Rumpelstilzchen und Dornröschen. Alles Märchen, die wir seit unserer Kindheit lieben und wahrscheinlich auch selbst Kindern erzählen werden. Wieso? Märchen vermitteln wichtige Werte, helfen dabei, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und können Kindern dabei helfen, ihre eigenen Erfahrungen zu verarbeiten und verschiedene Perspektiven einzunehmen. Wir unterstellen Märchen dabei, weise und wertvoll zu sein, da sie schon vor Jahrhunderten an Lagerfeuern von Menschen erzählt worden waren und es ja einen Grund geben muss, wieso sie bis heute noch existieren. Die naive Erzählweise und die jahrhundertelang übergreifenden Symbole nehmen wir dazu als Beweis.
Wieso gerade Kinder sie lieben ist deswegen offensichtlich: Märchen sind kurz, haben leicht als Gut oder Böse zuordenbare Figuren, sie verwenden viele Symbole, die wir unterschiedlich interpretieren können und in ihnen können fantastische Dinge passieren, die die eigene Fantasie anregen. Meistens haben sie auch eine weitere Deutungsebene, die auch die erwachsenen Erzähler anspricht.

Witzigerweise haben unsere geliebten Märchen kaum etwas mit den ursprünglichen Legenden und Märchen zu tun und haben sogar einen frauenfeindlichen Ursprung.

Die Märchen, die wir heute kennen und lieben, wurden wahrscheinlich nie an einem Lagerfeuer erzählt oder hatten die Absicht Kindern etwas zu vermitteln.
Es gibt Märchen, die wir heute noch kennen, die ihren Ursprung in Legenden und Mythen haben, die in unterschiedlichen Kulturen erzählt wurden und werden (beispielsweise Rotkäppchen), doch handelt es sich bei unseren beliebten europäischen Märchen um Geschichten, die in den Salons wohlhabender und gebildeter Frauen erzählt wurden.
Diese Geschichten waren fantastisch, symbolträchtig und voll psychologischer Tiefe, während sie sogar auf die damalige Popkultur und Politik bezogen haben.
Anders als unsere “modernen” Märchen, besaßen die Märchen der Salon-Frauen mehrere Bedeutungsebenen, die sich auch in komplexeren Handlungen mit mehreren Handlungssträngen widerspiegelten. Auch die Figuren selbst waren komplexer: Während in “modernen” Märchen die Figuren unterschiedliche, klar zuordenbaren Persönlichkeitsmerkmale hatten, die sie als Gut oder Schlecht ausmachen, hatten die Figuren der Salon-Frauen unterschiedliche Facetten und Nuancen. Selten gab es ein Happy End oder einfache Lösungen – vielmehr wurden reale Lebenssituationen und Schicksalsschläge von Frauen thematisiert.
In einem Märchen ging es beispielsweise darum, dass der Ehemann einer Frau zum Troll wurde. Deswegen begann sie eine Affäre mit einem Mann, der auch bald zu einem Troll wurde. Diesen Wandel konnte sie aber nur erkennen, weil ihr Ehemann ihr Intelligenz schenkte und sie vor der Ehe die Welt bereiste und sich so bildete. Zum Schluss blieb der Frau keine andere Wahl, als ihr Schicksal zu akzeptieren und ihre Trollmänner hinzunehmen, da auch andere Männer zum Troll werden würden.

Wenn diese Märchen aber so toll waren – wieso sind es dann nicht die Geschichten, die wir uns heute erzählen? Sind unsere liebgewonnen Märchen einfach die besseren?
Wie so oft, hängen diese Fragen mit einem größeren Problem zusammen.

Während gebildete Frauen ihre Geschichten in Salons erzählten, sie aufschrieben und sogar veröffentlichten, gab es Männer (darunter insbesondere den Märchenerzähler Perrault und die Märchensammler Grimm), die sich von diesen Geschichten inspirieren ließen oder gleich kopierten. 
Das allein wäre kein Problem – wie bereits gesagt: Die Salon-Frauen haben sich auch von Politik und Popkultur inspirieren lassen. Das Perfide daran war, dass entweder nicht transparent war, von wem die Ideen übernommen oder sich sogar über Salon-Frauen und Autorinnen lustig gemacht wurde, da diese keine richtige Schreibkunst beherrschen würden. Stattdessen wurden Ideen als die eigenen verkauft und Inhalte an die eigenen (misogynen) Moralvorstellungen angepasst.
Sie haben dabei Märchen absichtlich an Kinder und ihre Erzieherinnen adressiert, mit der Intention, dass diese Geschichten zur Erziehung und Bildung von Kindern verwendet werden sollen, damit sie die “richtigen” und bürgerlichen Werte erlernen. Dabei haben sie die übernommenen Märchen verzerrt und die Figuren entsprechend ihrer Intentionen verändert (so kommen wir auch zu den misogynen Geschlechterrollen, die wir noch immer in unseren Geschichten wiedergeben).

Gerade Perrault und die Gebrüder Grimm versuchten dabei den Märchen einen besonders “naiven” und volkstümlichen Klang zu geben, um den Anschein zu vermitteln, dass diese direkt aus dem Volk kommen und auch von den “einfachen” Kindermädchen erzählt werden können (sie dachten, dass komplexe Geschichten “zu hoch” für einfache Kindermädchen wären).
Die entstandenen Kinderbücher wurden dann gerade zu Feiertagen verschenkt und die Geschichten so auch Teil der Erziehung, wie wir es auch heute noch kennen.

Der “naive” und völkische Klang von Märchen war etwas, was gerade männliche Gebildete und Autoren an weiblichen Geschichten kritisierten, weswegen es oft vorkam, dass weibliche Autorinnen abgewertet und nicht ernst genommen wurden (Perrault und die Gebrüder Grimm wurden jedoch dafür gelobt, solch gute Autoren zu sein, dass sie selbst volkstümliche und naive Ausdrucksformen kopieren konnten). So wurde suggeriert, dass Autorinnen keine wahren Autoren waren, da sie weibische Inhalte vermittelten und keine “echte” Schreibkunst besaßen. 

Übrig geblieben sind uns deswegen Geschichten mit geringerer emotionaler und inhaltlicher Tiefe, deren Ursprung uns oft unbekannt ist und deren Inhalte nicht oft genug hinterfragen. Gerade die Inhalte unserer “modernen” Märchen sind oft problematisch – angefangen bei der Verherrlichung von Gewalt, toxischen Rollenbildern und einer besorgniserregenden und Klassenunterschied erhaltenden Arbeitsmoral.

Eine Studie namens “The Structure and Interpretation of Fairy Tales Composed by Children” von Kristin Wardetzky von 1990, in der es darum ging, wie Kinder Märchen reproduzieren, zeigt, welche Auswirkungen die Entwicklung unserer “modernen” Märchen hat: Die Studie hat gezeigt, dass die Kinder auf Stereotype zurückgreifen, um ihre eigenen Gefühle und Erfahrungen zu verarbeiten. So waren es Helden, die in die Welt hinauszogen und Frauen, die sich um andere kümmerten und erst durch Hilfeleistungen wertvoll wurden und sich einen Prinzen verdienten. Gerade Schönheit, Geduld und Ausdauer waren wichtige Eigenschaften der weiblichen Figuren.
Gewalt, Aggressivität und Durchsetzungsvermögen waren dabei Eigenschaften der männlichen Figuren und ein akzeptables Mittel, um die eigenen Interessen durchzusetzen. 

Aber auch die vermittelte Arbeitsmoral ist problematisch: Gerade Mädchen und Frauen, sollen geduldig und selbstlos schwere Arbeiten verrichten (denkt an Goldmarie und Pechmarie), ohne einen gerechten Ausgleich zu erhalten, in der Hoffnung, zum Schluss belohnt zu werden. Wer sich aber vor (ausbeuterischer) Arbeit drückt, wird bestraft.

Märchen prägen uns von klein an: Sie sollen uns wichtige Werte vermitteln und lehren, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sie können uns helfen, unsere eigenen Erfahrungen zu verstehen und uns Bilder geben, in Worte zu fassen, was in uns passiert. Leider vergessen wir es zu hinterfragen, was wir mit diesen Geschichten tatsächlich lehren und auch unseren kommenden Generationen vermitteln. Schon die Existenz unserer Märchenbücher beweist, dass wir den Umgang mit den damaligen Salon-Frauen und ihren Geschichten passiv unterstützen und wir auch diese toxischen Inhalte der Märchenbücher (unbemerkt) weitervermitteln.
Statt unseren Kindern Raum für ihre Entwicklung zu geben, lehren wir ihnen Werte von respektlosen Männern.

Trotzdem lässt sich gerade in den letzten Jahren ein positiver Trend erkennen: Es gibt immer mehr Märchenbücher, die Geschlechterrollen aufsprengen und Werte vermitteln, die Kindern tatsächlich dabei helfen können, ihre Gefühle und Erfahrungen aufzuarbeiten (und das ohne in ihrer Entwicklung durch fragwürdige Moralvorstellungen eingeengt zu werden).

Diese Aufarbeitung findet aber auch in Romanen und Filmen statt – gerade in den letzten Jahrzehnten kam eine neue Welle an Autorinnen auf, die alte Legenden und Märchen “transliterarisierten” (Aspekte von Geschichten werden entnommen, um die in einem neuen Deutungsrahmen neu erzählen) und uns einen neuen Blickwinkel auf Rollenideale und gesellschaftliche Werte geben, von denen wir vielleicht nicht mal ahnen konnten, dass sie hinterfragt werden können.

Es liegt nämlich an uns selbst, welche Werte wir Kindern vermitteln und an welche Märchen wir glauben und uns selbst erzählen. Deswegen können wir uns gar nicht früh genug fragen, was wir eigentlich lesen und was es tatsächlich bedeutet.

Deswegen findet ihr hier ein paar Märchen, die sich aktiv für eine freie Entfaltung und ein selbstbestimmtes Leben einsetzten und ein paar Quellen, um die Märchen der Salon-Damen selbst lesen zu können:

Salon-Frauen:

Moderne Märchenbücher:

Meine Quellen:


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