Amélie Nothomb – Die Passion (Buch)

Coverbild: (c) Diogenes

Amélie Nothomb – Die Passion (Buch)

Lebensbejahende Geschichte eines Todes 

Mit ihrer 2019 unter dem Originaltitel „Soif“ (deutsch: Durst) erschienenen Erzählung geht die belgische Bestseller-Autorin Amélie Nothomb ein großes Wagnis ein: Sie nimmt die Ich-Perspektive von Jesus ein, um die Passion, die Leidensgeschichte, nachzuerzählen.

Ohne sich in religiöse Widersprüche zu verheddern, inszeniert Nothomb ein anrührendes Ein-Personen-Stück, bei dem Jesus vor allem als Mensch erscheint, der am Abgrund eines schmerzhaften Todes steht. Durch die Ich-Perspektive wird der Text zum Selbstgespräch, dessen absolute Offenheit ebenso berührt wie verblüfft. Denn ohne irgendetwas idealisieren zu wollen, legt Jesus seine Emotionen und Zweifel offen. Durch Nothombs realistische Darstellung büßt er zwar an religiöser Überhöhung ein, gewinnt jedoch durch die tiefe Menschlichkeit, die er dabei offenbart.

Auf knapp 120 Seiten entfaltet sich ein Monolog, bei dem die Autorin ihrem Protagonisten zahlreiche philosophische Überlegungen in den Mund legt. Völlig frei lässt sie Jesus über alles sprechen, was sein Leben ausgemacht hat, um dabei auch über das Leben im Allgemeinen zu reflektieren.

Nicht immer ist der rote Faden klar auszumachen. Manches wird nur kurz angerissen, anderes erhält mehr Gewicht. An einigen Stellen wird der biblischen Darstellung widersprochen, an anderen wird sie bestätigt. Es entsteht das Porträt eines Menschen am Ende seines Lebens, der Ängste aber auch Hoffnungen offenbart. Jesus erscheint als Individuum mit ganz persönlichen Begehrlichkeiten, die auch während der letzten Lebensstunden noch Gewicht haben, wobei es Nothomb wichtig ist, das Begehren an sich als eine wesentliche Kraft hervorzuheben.

„Genug – was für ein schreckliches Wort! Wahrlich, ich sage euch: Es ist nie genug!“Seite 95

In ihrer autofiktionalen Erzählung „Biografie de la faim“(deutsch: Biografie des Hungers) hatte Nothomb bereits 2010 den unermüdlichen Lebenshunger als Ideal thematisiert. In „Die Passion“ nimmt sie die Metapher erneut auf, münzt sie nur vom Hunger in den Durst um, bleibt aber dem Ideal als solchen treu.

Der französische Originaltitel „Soif“ weist direkt auf dieses zentrale Grundthema hin, in der deutschen Übersetzung geht dieses Bild leider verloren.

Nothombs Jesus ist ein Sterblicher, der sich seinen Durst, also den Wunsch nach Leben und Sinnlichkeit bis zum letzten Atemzug bewahrt, obwohl er dafür durch sein Leiden einen hohen Preis zahlen muss.

„Um Durst zu haben, muss man leben. Ich habe so stark gelebt, dass ich durstig gestorben bin.
Das könnte das ewige Leben sein.“
Seite 118

„Die Passion“ ist in vielerlei Hinsicht eine für Nothomb untypische Erzählung. Die bissige Ironie und der scharfe Sprachwitz durch die sich die Texte der Vielschreiberein meist auszeichnen, sucht man hier vergeblich. Nothomb adaptiert die versöhnliche Perspektive ihrer Hauptfigur. Auch sonst fehlt das Schrille, Extravagante, durch das sie gerne provoziert. Dieser Stilwechsel steht der Erzählung gut. Nothomb überlässt die Bühne völlig ihrer literarischen Hauptfigur ohne von deren Leidensweg abzulenken. Der unverbrüchliche Lebenswille ihres Jesus, der an seiner Nächstenliebe festhält, bringt im Ergebnis eine lebensbejahende Erzählung hervor, die auch ohne religiösen Kontext aufgeht.

  • Autor:  Amélie Nothomb
  • Titel:  Die Passion
  • Originaltitel: Soif
  • Übersetzer: Brigitte Große
  • Verlag: Diogenes Verlag
  • Erschienen:  Oktober 2020
  • Einband:  Taschenbuch
  • Seiten:  128 Seiten
  • ISBN:  978-3257071412


Wertung: 12/15 dpt

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