Sahar Mandûr – Ein Mädchen namens Wien (Buch)


Sahar Mandûr – Ein Mädchen namens Wien (Buch)

Coverbild: Ein Mädchen namens Wien (c) Edition Faust

Ein unangepasstes Leben

Wie im Zeitraffer stürmt die Erzählstimme voran. Geburt, Kindheit, Pubertät und ‚zack‘ ist das Mädchen namens Wien, wie Sahar Mandûr ihre Hauptfigur in der gleichnamigen Erzählung nennt, auch schon erwachsen.

Ein bisschen fühle ich mich bei so viel Tempo übertölpelt und erwische mich dabei, wie ich mir wünsche, Mandûr ließe sich ein wenig mehr Zeit. Ihre Prosa hat Biss und ist schonungslos direkt. Mit jedem zweiten Satz schubst sie mich durch ihre respektlose Art aus meiner Komfortzone. Nie gönnt sie mir als Leserin auch nur einen Augenblick der Ruhe.

Den Großteil der Erzählung lässt sie Wien aus der Ich-Perspektive selbst berichten. So wird schnell klar: Der rasante Stil spiegelt die ruhelose Hauptfigur, die von einem Lebensereignis zum nächsten hetzt. Wien ist eine, die überhaupt nicht zur Ruhe kommt. Eine, die vor allem nicht zu sich selbst kommt. Dabei wünscht sie sich doch genau das so sehr: Einen Platz im Leben. Ihren Platz.

Mandûr lässt ihre Heldin alle möglichen Lebensentwürfe ausprobieren. Sie studiert, scheitert aber. Sie lässt sich auf eine arrangierte Ehe ein. Doch Ehefrau und Mutter zu sein gefällt ihr nicht. Nach dem Suizid ihres Mannes ist sie Witwe, nicht ohne auch hier die gesellschaftlichen Anforderungen zu missachten. Sie wird Ansagerin und Moderatorin im Fernsehen, hat Erfolg. Doch auch hier fühlt sie sich auf Dauer nicht glücklich. Sie versucht es mit der Liebe, aber über Affären kommt sie nicht hinaus. In den Reihen einer Religionsgemeinschaft sucht sie Halt, reist sogar nach Mekka. Religiöse Empfindungen weckt das in ihr jedoch nicht.

Bei allem was Wien unternimmt, bleibt sie fremd, weil sie sich selbst fremd bleibt.

Eigentlich, denke ich, kann es solche Frauen doch überhaupt nicht geben, oder? Also nicht in einem arabischen Land. Nicht so, wie die Autorin ihre Figur hier aufs Papier wirft: respekt- und furchlos. Promisk und frech.

Doch weder Autorin noch ihre Protagonistin scheren sich um meine Vorurteile. Mandûr geht es nicht darum, eine Symathieträgerin zu entwerfen. Sie zeichnet Wien als oberflächige und egozentrische Person. Das macht es nicht leicht, Empathie zu ihr aufzubauen. Aber liegt darin nicht gerade ein eindeutiger Beweis ihrer Unabhängigkeit? Wien ist eine, die sich jeder Wunsch- und Erwartungshaltung entzieht. Ebenso wie Wien jedes Rollenklischee verneint, in das die Gesellschaft sie gerne hineinzwängen möchte. Alle Rollen, die ihr im Laufe ihres Lebens angeboten werden, sind solche für Frauen und keine macht sie glücklich. Doch in keine dieser Rollen passt sie letztendlich wirklich hinein.

„Ich wollte eine Nicht-Durchschnittsfrau sein. Doch unter allem, was die Gesellschaft so anbot, fand ich keinen Pfad, den ich hätte beschreiten können.“
Seite 57

Mandûrs Heldin bleibt kompromisslos bis zum Schluss. Das große Glück findet sie zwar nicht, aber sie lebt selbstbestimmt bis zum Tod. Sogar diesen münzt sie noch zu ihrem persönlichen Erlebnis um.

Die Biografie der Hauptfigur erscheint wie eine oberflächige Auslistung von Episoden. Doch immer wieder blitzt durch kurze Nebensätze oder Andeutungen die aktuelle Situation hervor, in der sich Wien exemplarisch für ihre Geschlechtsgenossinnen im heutigen Libanon befindet. Die starren Traditionen, die die Geschlechterrollen definieren, halten die Lebensgeschichte der Protagonistin zusammen und sind dadurch unausgesprochen ständig präsent.

Mit „Ein Mädchen namens Wien“ liefert die Autorin Sahar Mandûr ein lebendiges Beispiel zeitgenössischer feministischer Literatur aus dem Libanon.

  • Autor:  Sahar Mandûr 
  • Titel:  Ein Mädchen namens Wien
  • Übersetzer:  Hartmut Fähndrich
  • Verlag:  Edition Faust
  • Erschienen:  Juli 2022
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 96 Seiten
  • ISBN:  978-3949774058


Wertung: 12/15 dpt


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