Fatima Daas – Die jüngste Tochter (Buch)


Verschiedene Grüntöne und schwarze Schlieren. In weiß: "Die Jüngste Tochter" und der Autorinname: "Fatima Daas".
© Claassen

Fatima Daas – Die jüngste Tochter

“Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss. Einen Namen, den man nicht >>beschmutzen<< darf, wie man bei uns sagt.” (S.5)

“Die jüngste Tochter” ist ein fiktiver Roman von Fatima Daas, der 2019 durch den Claassen-Verlag im Deutschen veröffentlicht wurde. Daas thematisiert dabei konfrontativ, welchen Einfluss Glaube, Sexualität und Schuld auf die Entwicklung der eigenen Identität haben.

Fatima wurde in eine gläubige in Frankreich lebende algerische Familie geboren. Ihre Geburt war dabei eine Schande, wie sie es selbst behauptet, da sie als dritte und jüngste Tochter geboren wurde, statt als der Sohn zu Welt zu kommen, den sich ihr paternalistischer Vater wünschte.
In kurzen Kapiteln (meistens nur zwei bis fünf Seiten lang) und einem Schreibstil der mich an Poetry Slams und Rap erinnert, sehen wir, wie Fatima die unterschiedlichen Stücke ihrer Identität zusammenpuzzeln will, ohne die Bindeglieder zu haben. Währenddessen merkt Fatima nicht, dass nicht sie die Person ist, die eine Schande ist, sondern die Strukturen, in die sie sich einzwängt.

Episodisch, in nicht chronologisch geordneten Abschnitten, verfolgen wir Fatimas Beobachtungen zu ihrer Familie, ihrem Glauben, ihrer (Homo-)Sexualität und ihren Beziehungen. Wir erleben Ausschnitte aus ihrer Kindheit und Jugend, die Rollenverteilung und die Schwächen ihrer Eltern, ihre Liebesbeziehungen und auch ihre Gespräche mit ihrem Imam.
In all diesen Episoden wurde Fatima mit ihrer Identität konfrontiert und ihre Schwachpunkte schmerzlich offengelegt: Ihre erste Schwäche ist ihr Geschlecht.
Statt wie erhofft, als Sohn geboren zu werden, kommt sie als Tochter zur Welt. Doch auch an dieser Rolle und den Ansprüchen ihrer Mutter scheitert sie, da sie als “Tomboy” lieber mit Jungen ihre Zeit verbringt und den Schmuck, den ihr ihre Mutter schenkt, nicht tragen kann.
Ihre nächste Schwäche ist ihre Sexualität: Fatima ist lesbisch und lebt ihre Sexualität in lesbischen Beziehungen aus,die daran scheitern, dass sie keine Nähe zulassen kann. 
Ihre letzte Schwäche ist ihr Glaube: Fatima ist eine gläubige Muslimin, deren Lebensart und Identität gegen die Lehren des Korans verstoßen.
Fatima wird von ihrem Glauben geplagt eine Schande aus der Sicht ihrer Eltern zu sein, nicht genug zu sein und den Ansprüchen um sicher herum nicht gerecht zu werden. So sagt Fatima selbst: “Ich bin ein Irrtum, ein Unfall.” (S.120)

Diese Gefühle kann sie kaum sich selbst gegenüber artikulieren, was auch an ihrer Erziehungen liegt: Fatima kommt aus einem konservativen und paternalistischen Haushalt, in dem Gefühle und Bedürfnisse verschwiegen und unterdrückt werden. In diesem Haushalt herrschen die Rollen, die man durch das eigene Umfeld auferlegt bekommen hat – das Königreich der Mutter ist die Küche, was auch der einzige Raum ist, in dem sie Zuneigung zeigen kann. Der Vater ist verschwiegen und streng – Emotionen, die über Indifferenz oder Wut hinausgehen, können nicht artikuliert werden.
Der Glaube spielt ebenfalls eine große Rolle, um die bestehenden Verhältnisse zu rechtfertigen und zu erhalten, ohne tiefergehend betrachtet und reflektiert zu werden. Zwar werden regelmäßig Predigten gemeinsam angehört, aber ihre Bedeutung nicht analysiert und reflektiert. Gerade Fatima leidet darunter, da sie versuchen will ihren Glauben zu verstehen.
Diese Konstruktion überwältigt Fatima mit ihrer bloßen Existenz wie ein Orkan, ohne es jemals beabsichtigt zu haben: Sie ist ein lesbischer Tomboy, der ihren Glauben verstehen und reflektieren will.

Insgesamt handelt es sich bei “Die jüngste Tochter” um einen Roman, in dem es darum geht, die eigene Identität zu akzeptieren und Frieden mit dem ständigen Schuldgefühl zu finden, nicht in die vorherrschenden (patriarchalen und konservativen) Strukturen zu passen.

Gerade das aber macht diesen Roman so gut! Zu oft musste ich lesen, wie unsere Protagonisten bis zum Schluss ihren Seelenfrieden finden konnten (und das meistens zulasten ihres Glaubens oder ihrer Familie), um zum Schluss glücklich alt oder zumindest weniger pessimistisch zu werden. Diese Geschichten gibt es zu oft und haben meistens weiße und heterosexuelle Hauptfiguren, die nicht zeigen, wie brutal und Identitätsgefährdend dieser innere Kampf um Identität und Selbstwert tatsächlich sein kann – gerade wenn man eben nicht in die existierenden Strukturen passt.

Fatima Daas zeigt aber genau diese Perspektive!

Sie zeigt, dass dieser Konflikt um die eigene Identität unendlich lange und kräftezehrend in der Schwebe verbleiben kann, ohne dass man sich jemals der um einen herum existierenden Strukturen bewusst wird, die dieses Konflikt erst verursacht haben. Daas zeigt aber auch, wie komplex Identität und zwischenmenschliche Beziehungen sind, während Fatimas ständiges Schuldgefühl zwischen den Zeilen hing. Denn Fatima findet bis zum Schluss keinen Seelenfrieden – bis zum Schluss kann sie weder ihre Sexualität, ihren Glauben noch ihr Geschlecht miteinander vereinen.

Mir hat es dabei gefallen, dass nicht wie so oft versucht wurde, Fatimas Glaube die Schuld für ihr Problem zu geben oder diesen in der Geschichte loszuwerden – vielmehr war er einfach ein Aspekt Fatimas Persönlichkeit, mit dem sie ebenfalls ihren Frieden finden wollte.

Deswegen ist “Die jüngste Tochter” ein Roman, den ich unbedingt an alle weiterempfehle, die sich selbst in einem Kampf mit ihrer Identität befinden, ohne direkt eine Lösung vorgesetzt zu bekommen.
Dieses Buch ist kurz, hat einen fesselnden Rhythmus und ist mit so viel Symbolik verpackt, dass man mit jedem Kapitel fünf Seiten Analyse füllen könnte.

  • Autor: Fatima Daas
  • Titel: Die jüngste Tochter
  • Originaltitel: La petite dernière
  • Übersetzer: Sina de Malafosse
  • Verlag: Claassen
  • Erschienen: 2021
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 192
  • ISBN: 978-3546100243
  • Sprache: Französich
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite
  • Erwerbsmöglichkeiten


    Wertung: 13/15 dpt


1 Kommentar
  1. Hallo Jennifer,
    deine Aussage finde ich sehr treffend: »Währenddessen merkt Fatima nicht, dass nicht sie die Person ist, die eine Schande ist, sondern die Strukturen, in die sie sich einzwängt.« Diese ihre Haltung verändert sich jedoch im Laufe der Darstellung. Sie sucht ihre Identität und stellt fest, dass diese aus unterschiedlichen Facetten besteht, was dazu führt, dass sie zwischen allen Stühlen sitzt, das aber letztlich akzeptiert. Daher stimme ich dir zu: »Gerade das aber macht diesen Roman so gut!«
    Sehr lesenswert!
    Liebe Grüße
    Margret

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