Malin C. M. Rønning – Skabelon (Buch)


Malin C. M. Rønning – Skabelon (Buch)

Perfekte Symbiose von Natur und Sprache

Cover: Skabelon (c) Karl Rauch Verlag

Was passiert mit einem Kind, das völlig sich selbst überlassen heranwächst? Wohin mit der ureigenen Sehnsucht nach einem Platz im Leben? Die norwegische Autorin Rønning zeigt in ihrem preisgekrönten Debütroman wie elementar wichtig, familiäre Strukturen zur eigenen Identitätsentwicklung sind.

Ich-Erzählerin Urd, zu Beginn der Geschichte sechs Jahre alt, lebt mit ihrer Familie in einem abgelegenen Haus am Waldrand. Urd und ihre sieben Geschwister wachsen völlig sich selbst überlassen heran. Weder der Vater, der als Waldarbeiter oft wochenlang unterwegs ist, noch die Mutter, kümmern sich um Haushalt oder Erziehung. Elterliche Liebe oder Fürsorge sind kaum vorhanden. Es sind die Geschwister selbst, die sich gegenseitig ein wenig Halt geben. Der große Bruder ist der Einzige, der zeitweise Verantwortung übernimmt.

Urd orientiert sich an der sie umgebenden allgegenwärtigen Natur. Sie ist es, die Verhalten und  Wahrnehmung der Heranwachsenden maßgeblich prägt. Eine Auffälligkeit, die Urd den Spitznamen „Skabelon“ einbringt. Denn „Skabelon“ – das erfahren die Leser*innen im vorangestellten Vorwort des Verlages –leitet sich etymologisch vom deutschen Wort Schablone ab und beschreibt unter anderem eine Gestalt bzw. eine Form, die ein Lebewesen für sich annimmt – so wie sich Urds Persönlichkeit dem Vorbild der Natur anlehnt.

Doch in der Natur herrschen andere Werte als in der menschlichen Gesellschaft. Es gibt keine Unterschiede zwischen Gut und Böse, zwischen erlaubt und verboten. Krankheit und Stärke, Tod und Leben, Wachsen, Werden und Vergehen, all das liegt auf einer Bedeutungsebene dicht nebeneinander. Und es gibt keine Vorbilder für ein Verhalten unter Menschen. Als Urd in die Schule kommt, hat sie große Mühe sich in die Gesellschaft einzufügen. Urd bemerkt den Abstand zwischen sich und den anderen. Wir Leser*innen spüren ihre Trauer darüber. Sie selbst findet dafür jedoch keine Worte.

Rønning verleiht ihrer Ich-Erzählerin eine Stimme, in der sich die Grenzen zwischen traditioneller Erzählweise und instinktiver Wahrnehmung völlig auflösen. Urd kann ihre Emotionen nicht benennen. Rønning überlässt es uns, den Leser*innen, diese selbst zu erkennen, indem wir ihrer Protagonistin folgen.

Urds Erzählen ist Wahrnehmung. Ist sensitiv. Gerüche, Geräusche, Farben und Formen dominieren. Rønning hebt den Gegensatz zwischen äußerer Beschreibung und reflektierter Wertung völlig auf. So stehen scheinbar nebensächliche Details auf gleicher Bedeutungsebene mit handlungsgebenden Beschreibungen. Auch fließen Urds Erinnerungen fast übergangslos in die große Chronologie der Ereignisse mit ein.

Es ist grandios wie Rønning sich die Perspektive ihrer kindlichen Protagonistin aneignet ohne sich von deren Naivität einengen zu lassen. Zu jeder Zeit kontrolliert die Autorin ihre Erzählung mit großer Souveränität. Kein Satz ist dem Zufall überlassen. Sie setzt bewusst alles Vage ein, um den Erzählraum zu öffnen. Ereignisse, die den kindlichen Horizont überschreiten, und darum von ihr nur in Andeutungen berichtet werden können, überlässt sie der Interpretation der Leser*innen, wodurch sich die Geschehnisse noch erschütternder darstellen.

Die Story hinter Skabelon ist haarsträubend: Ein total vernachlässigtes Mädchen, Andeutungen einer inzestuösen Beziehung zwischen Mutter und Großvater, Situationen, in denen die Kinder in Lebensgefahr schweben ohne, dass sich die Mutter oder sonst irgendjemand darum kümmert.

Trotzdem liest sich der Roman nicht wie die nüchterne Sozialstudie, die man anhand der Rahmenhandlung erwarten könnte. Mit Urd stellt Rønning eine Figur ins Zentrum, die sich ein eigenes Universum erzeugt. Es entsteht ein natürlicher Raum, in dem sich die Verlorenheit der Protagonistin zugleich spiegelt und aufhebt.

„Alles verschwindet früher oder später.“ Mit diesem Satz beginnt der Roman. Mit diesem Satz setzt Urds Erzählen ein. Und genau mit diesem Satz setzt sich Urd über das Verschwinden hinweg. Denn durch ihr Erzählen und Erinnern erzeugt Urd ihre eigene Geschichte. Eine Geschichte, durch die sie sich selbst ihre Identität erschafft, unabhängig von ihrer Familie, die sich im Laufe der Erzählung immer mehr verliert.

Mit Ende des Romans ist Urd dreizehn Jahre alt und steht damit auf der Schwelle zum Erwachsensein. Sie hat einen Weg gefunden, ihr eigenes Selbstbewusstsein zu definieren. Inwieweit sie jedoch in der Lage sein wird, die Verantwortung einer Erwachsenen zu tragen, bleibt zweifelhaft. Rønning entlässt ihre Protagonistin in ein offenes Ende, das umso offener erscheint, je ungestillter die Sehnsucht Urds nach menschlicher Nähe bestehen bleibt.

„Skabelon“ ist 2020 erstmals in Norwegen erschienen. Zweifelsohne ist es Rønnings außergewöhnliche Prosa, die die Lektüre zu einem besonderen Ereignis macht. Mit seiner Übersetzung für den Karl Rauch Verlag hat Andreas Donat diesen einzigartigen Zauber von Rønnings Prosa eingefangen und dem deutschen Lesepublikum zugänglich gemacht.

  • Autor: Malin C. M.  Rønning
  • Titel: Skabelon
  • Originaltitel: Skabelon 
  • Übersetzer: Andreas Donat
  • Verlag: Karl Rauch Verlag
  • Erschienen: März 2022
  • Einband: Gebundene Ausgabe
  • Seiten: 224 Seiten
  • ISBN: 978-3792002728


Wertung: 14/15 dpt


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