Mignon Kleinbek – Wintertöchter: Die Gabe (Buch)


© Pinguletta

“Wintertöchter: Die Gabe” ist ein Buch, von dem ich zunächst nicht wusste, was ich davon halten soll und mich immer wieder durch unvorhergesehene Wendungen überraschte und meine Meinung immer wieder aufs Neue auf den Kopf stellte.

Deswegen fiel es mir am Anfang auch schwer, diese Rezension zu verfassen.

“Wintertöchter: Die Gabe” ist der erste Band Mignon Kleinbeks Wintertöchter-Trilogie, welcher zunächst gemächlich, aber dann immer rasanter werdender Emanzipation, Selbstbestimmung und patriarchale Strukturen thematisiert.

Das Buch beginnt langsam mit Annas Geburt 1940 auf der österreichischen Alm, die von dem unmittelbaren Tod ihres Vaters überschattet wird. Schnell wird auch klar, dass sie die gleiche Gabe wie ihre Urahninnen besitzt, die es ihr durch den Geschmack von Objekten und Lebewesen erlaubt, sich in sie hineinzuversetzen. Dadurch ist es ihr auch möglich in die Köpfe von Menschen zu blicken und alles über sie zu erfahren.

Um diese anspruchsvolle Gabe zu meistern wächst Anna zunächst behütet auf der Alm auf und wird liebevoll von ihrer Familie großgezogen. Gerade ihre Tante und Mentorin, die als Hebamme und Heilerin arbeitet, ist maßgeblich an Annas Entwicklung beteiligt, während ihre Mutter trotz (oder gerade wegen) ihre düstere Grundstimmung versucht, eine vermeintlich heile Welt zu erhalten.

Diese heile Welt zerbricht aber als Anna die Kontrolle über ihre Gabe verliert und ein neuer Mann in das Leben ihrer kleinen Familie tritt.

Mir fällt es schwer, mein Erlebnis mit diesem Buch in Worte zu fassen: Während ich beim Lesen darauf gewartet habe, dass Annas Gabe endlich eine für die Handlung bedeutende Rolle spielt, habe ich dabei fast übersehen, um was für ein Buch es sich hier tatsächlich handelt: Es ist ein Buch über ein hochsensibles Mädchen, welches in einer patriarchalen und von veralteten Normen beherrschten Welt überleben will und dabei immer wieder durch unterschiedliche Schicksalsschläge zu Boden gerungen wird.

Während ich zu Anfang darauf gewartet habe, dass die Gabe zu Konflikten führen würde – gerade, da das Buch kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt und es gerade im Zusammenhang mit den menschenverachtenden Experimenten der Nazis eine verdammt spannende Geschichte hätte sein können – werden in diesem Buch die alltäglichen Schicksalsschläge gezeigt und wie Menschen vor fast achtzig Jahren mit ihnen umgegangen sind. 

So wurden häusliche Gewalt, Kriegstrauma, Familiendramen, aber auch Vergewaltigung und Vernachlässigung in der Gemeinschaft nicht thematisiert.

Zwar hielt man gerade im Dorf zusammen, wenn es um die Haltung von Tieren, den Tausch von Waren und Dienstleistungen ging, aber mit dem, was die Menschen im Inneren zerfraß, wurden alle alleine gelassen: Privates blieb privat und alles Unnormale war Gefahr für diesen zerbrechlichen Frieden.

Dieser Zeitgeist war während dem Lesen allgegenwärtig – während ich mich am Anfang noch daran störte, dass wichtige Themen wie eben Trauma und Depressionen scheinbar unter den Tisch gekehrt wurden, wurde mir erst im Nachhinein klar, dass Themen, die die eigene psychische Gesundheit und schreckliche Erlebnisse, nie etwas waren, über das man gesprochen hat. Deswegen herrschte immer die Haltung vor, dass man einfach die Zähne zusammenbeißen muss oder Erlebnisse erst gar nicht reflektiert oder verarbeitet wurden – sonst wurde man als erbärmlich oder sogar eine Bürde für die Gemeinschaft angesehen.

Das führte auch dazu, dass Kinder in Haushalten blieben, in welchen sie misshandelt wurden oder Opfer von Vergewaltigung mit dem Täter weiterhin unter einem Dach leben musste und niemand etwas dagegen machte.

Die Gabe war dabei ein subtiles Mittel, um deutlich zu machen, wie es emphatischen und sensiblen Menschen in so einem Umfeld geht: Man ist ständig überfordert und lernt nur langsam, sich von all diesen Sinneseindrücken und Gefühlen abschirmen zu können. Hilfe gibt es keine, denn die Gemeinschaft könnte sich gegen einen stellen.

All diese Punkte zusammengenommen, machen “Wintertöchter: Die Gabe” zu einem sehr interessanten Buch, das nach und nach tiefer liegende Schichten offenbart, die es einem auch erlauben, dass eigene Umfeld zu betrachten – dazu gehört insbesondere die Frage danach, wie wir mit Trauma, psychischen Krankheiten und schweren Schicksalsanschlägen im Privaten, aber auch im Öffentlichen, umgehen.

Dennoch hätte ich mir gerade am Anfang des Buches gewünscht, dass das Buch straffer geschrieben worden wäre, denn hin und wieder gab es Abschnitte, die zäher zu lesen waren.

Abgesehen davon besitzt Kleinbeck einen wunderschönen Schreibstil, mit dem sie insbesondere die Landschaften und die unterschiedlichen Figuren zum Leben erweckt hat.

Deswegen ist “Wintertöchter: Die Gabe” ein Buch, das ich allen weiterempfehlen kann, die sich für authentische Kriegszeit-Geschichten interessieren und keine Angst davor haben auch schwere Themen, wie häusliche Gewalt und Vergewaltigung, zu thematisieren. Die Gabe selbst hat dabei nur die Aufgabe, die Sensibilität der weiblichen Figuren zu verdeutlichen. Kleinbek konnte nämlich geschickt einen Zeitgeist aufgreifen und ihre Geschichte authentisch mit ihm verknüpfen, um so eine Geschichte zu erzählen, die viele gerne vernachlässigen.

  • Autor: Mignon Kleinbek
  • Titel: Wintertöchter: Die Gabe
  • Teil/Band der Reihe: 1 von 3
  • Verlag: Pinguletta
  • Erschienen: 2019
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 480
  • ISBN: 978-3-948063-05-4
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite
  • Erwerbsmöglichkeiten


    Wertung: 12/15 dpt


1 Kommentar
  1. Liebe Frau Bihr,
    lieben Dank für Ihre ausführliche Buchbesprechung.
    Wie schön, dass die Wintertöchter bei Ihnen gelandet sind und Nachhall hinterließen. Das freut mich sehr.
    Herzlichst
    Mignon Kleinbek

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