Oliver Hilmes – Das Verschwinden des Dr. Mühe (Buch)

Oliver Hilmes – Das Verschwinden des Dr. Mühe (Buch)

Packende Rekonstruktion eines Cold Case der 1930er Jahre

Das Verschwinden des Dr. Mühe
© Penguin

Der praktische Arzt Dr. Erich Mühe, 34 Jahre alt, ist einer von insgesamt 6.653 Ärzten in Berlin. Seine Praxis ist in den Räumen seiner Neun-Zimmer-Wohnung untergebracht, in der er mit seiner Frau Charlotte, einer Untervermieterin und einem Zimmermädchen lebt. Mühe ist ein angesehener Arzt, seine Praxis gut besucht und seit kurzer Zeit wird dies durch eine neue Limousine der Marke Adler nach außen sichtbar.

In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1932 verlässt Mühe noch mal die gemeinsame Wohnung. Ein Patientenbesuch, anschließend wolle er noch etwas trinken. Am nächsten Morgen wacht Charlotte allein im Ehebett auf, einen Tag später informiert sie die Polizei, dass ihr Mann vermisst werde. Derweil hat der Wirt des „Waldfrieden“ am Sacrower See längst gemeldet, dass vor seinem Lokal die besagte Limousine stand. Am Morgen des 14. Juni hatte er sich noch nichts dabei gedacht, im Laufe des Nachmittags aber mal nachgesehen. Ein Koffer mit Anzug und persönlichen Wertgegenständen, ein Pass und Portemonnaie sowie der Autoschlüssel befinden sich im Auto, welches nicht abgeschlossen ist. Der Wirt nimmt die Sachen an sich, meldet den Fall der Polizei, doch da ist die Limousine bereits schon wieder verschwunden. Ebenso wie Dr. Mühe, von dem jede Spur fehlt.

Kommissar Ernst Keller und sein Assistent Schneider stürzen sich in die Ermittlung. Charlotte erzählt, dass ihr Mann nach einem schönen Abend noch mal zu einem Patienten wollte, während Hugo Rasch, Charlottes Gesangslehrer und enger Freund, bei seiner Befragung angibt, es hätte am Abend des 13. Juni einen Streit zwischen den Eheleuten gegeben. Die Polizei befragt weitere Angehörige, Arbeitskollegen und vermeintliche Zeugen, doch mit zunehmender Dauer wird es immer verworrener. Der Fall scheint unlösbar und wird erst 1934 wieder aktiviert, nachdem plötzlich Charlotte an einem schweren Nierenleiden stirbt. Eine Krankheit, die laut einer Zeugenaussage ihrem Mann bekannt war. Aber warum sollte Mühe seine Frau nicht behandelt haben? Und was ist dran an dem Gerücht, dass Charlotte und Rasch ein Verhältnis hatten? Haben sie damals gemeinsam Mühe umgebracht, um an dessen Lebensversicherungen zu kommen? Ohne Leiche, keine Zahlung, da ist die Versicherung hart. Ebenso wie die neue Zeit, denn inzwischen sind die Nationalsozialisten an der Macht und der neue Polizeipräsident macht Keller im Oktober 1935 zwei klare Ansagen: Keine Ermittlungen mehr gegen den treuen SA-Mann Rasch und wenn es bis Jahresende kein Ergebnis gibt, wandert der Fall ins Archiv.

True Crime im Reportagestil

Autor Oliver Hilmes ist Historiker und hat bereits durch mehrere biografische Werke überzeugt. Im Anhang erzählt er, wie er im Landesarchiv Berlin – auf der Suche nach ganz anderen Informationen – an den vorliegenden Fall geriet. Es war wohl eine Mischung aus Zufall und Spürsinn, die ihn einen längeren Blick in die Akte werfen ließ. Zum Glück. Auch wenn es hier romanähnliche Passagen gibt, so erzählt Hilmes eher im Stile eines Reporters. Dabei wird durch die zahlreichen Befragungen nach und nach offengelegt, was sich womöglich ereignet haben könnte. Es ist interessant zu beobachten, wie sich das Blatt dabei wiederholt zu wenden scheint. War womöglich von Beginn an Charlotte das Opfer und nicht Mühe selbst? Dieser führte jedenfalls ein gut gehütetes Doppelleben.

Keller hat keine weiteren Fragen. Während er die Innere Abteilung verlässt, muss er an den Verdacht des Professors denken. Dass ein Arzt eine Patientin absichtlich unbehandelt lässt, ist ein schwerer Verstoß gegen den ärztlichen Kodex. Wenn die Kranke jedoch seine eigene Ehefrau ist, tut sich ein menschlicher Abgrund auf.

Neben dem Versuch, den Fall einer Lösung näher bringen zu können (es handelt sich ja um einen sogenannten Cold Case, also einen unaufgeklärten Fall), überzeugt das Werk zudem durch zwei weitere Komponenten. Es verfolgt den Werdegang einzelner Figuren, die immer wieder in die Ermittlungsarbeit hineingeraten. Die hochnäsige und arrogant auftretende Charlotte mit ihrem vorzeitigen Ableben sowie Hugo Rasch, der später im Dritten Reich groß Karriere machen wird und als Mörder seiner eigenen Frau letztlich in einer geschlossenen Anstalt endet, sind die prägenden Beispiele.

Zudem spiegelt das Buch die damalige Zeit wieder. 1932 liegt die Weimarer Zeit in ihren letzten Zügen. Am 17. Juli 1932 kommt es im Hamburg zum „Altonaer Blutsonntag“, am 20. Juli zum „Preußenschlag“, in dem die preußische Regierung abgesetzt und von Reichskommissar Franz von Papen abgelöst wird und am 6. November kommt es zu neuen Reichstagswahlen, in denen die NSDAP überraschend in allen Wahlbezirken verliert. Kellers Partner freut sich bereits über das nahende Ende der Nazis, doch Keller selbst sieht klarer. 33 Prozent heißt nicht nur weiterhin stärkste Fraktion, sondern vor allem, dass die Partei rund zwölf Millionen Stimmen erhalten hat.

Kurzum

Bei „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ darf jeder Krimifan gerne zugreifen. Das Ende soll nicht gespoilert werden, aber obwohl es sich um einen Cold Case handelt, zeigt Oliver Hilmes einen zumindest denkbaren Ausgang auf.

  • Autor: Oliver Hilmes
  • Titel: Das Verschwinden des Dr. Mühe
  • Verlag: Penguin
  • Umfang: 240 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: August 2020
  • ISBN: 978-3-328-60138-8
  • Produktseite  


Wertung: 12/15 dpt

 

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