Nena – Wandern (Aus dem Album „Licht“)
Als Nena-Fan hat man es nicht leicht dieser Tage, dieser Corona-Tage wegen, sozusagen. Aber ich bin Nena-Fan, nicht gewesen, nicht geworden, ich bin es einfach – schon ewig und ich bleibe es auch. Natürlich ist das irgendwie fast schon ein politisches Statement, denn irgendwo positionierte sich Nena im vergangenen Jahr mehrfach hart gegen die Corona-Maßnahmen und dazu wurde sowohl applaudiert und gefeiert als auch aufs Vehementeste diskutiert und medial an den Pranger gestellt. Doch irgendwann wird auch das nur ein kleiner Teil sein, eine einzelne Episode einer Geschichte, deren Ausgang wir nicht kennen und daher auch nicht vorwegnehmen können.
Was aber bleibt, was immer bleibt, ist die Musik. Das kann ich sicher sagen. Die Musik ist das, was bleibt, selbst dann, wenn ein Mensch geht. Und Nenas Musik begleitete mich auf einem schweren letzten Gang im Herbst 2020. Da nämlich verstarb meine liebe Patentante, wohnhaft seinerzeit im schönen Sauerland. Nicht in Hagen, wo Nenas Wiege stand, aber auch nicht unweit von dort. Und ich schwöre, als Kind, als kleines Mädchen, war ich im Zweifel darüber, ob Nena nicht in Wirklichkeit meine Patentante ist. Tatsächlich dachte ich oft darüber nach, denn ich sah meine Patentante, die Bettina hieß, ja praktisch nie. Und es gab auch keine Beweisfotos, die man auf einem Handy bei sich trug oder im Netz abrufen konnte, es gab ja nicht einmal Handys oder Mobilfunknetze. Aber irgendwo im Sauerland gab es eine Patentante, die mir zu jedem Geburtstag und zu Weihnachten wundervolle Päckchen schickte, die immer nach herrlichem Parfum rochen, wochenlang um die jeweiligen Termine herum rannte ich nach Sichtung des gelben Postfahrzeugs eilig zur Tür und fragte, ob denn heute endlich ein Paket von meiner Patentante dabei wäre.
Ich liebte diese Pakete, die Überraschungen, den Geruch und meine Patentante, mit ihren großen 80er-Jahre-Ohrringen, die ich nur einmal im Jahr oder seltener noch sah und die so schön war vor meinem inneren Auge, eine so modern gekleidete, toll zurechtgemachte Frau. Genauso wie diese Nena sah sie aus. Diese Nena, die ich von der „Ein Herz für Kinder“-Sendung und der „Hitparade“ aus dem Fernsehen kannte. Sie sahen original gleich aus, meine Patentante Bettina und Nena. Fand ich. So original gleich, weshalb ich tatsächlich lange unsicher war, ob es sich bei Nena und Bettina um ein und dieselbe Person handeln könnte und deshalb liebte ich einfach beide! Genauso ist es geblieben, obwohl inzwischen ganz klar ist, dass Nena nie meine Patentante war. Als ich meine Patentante 2020 aus dem Leben verabschieden musste, war Nena mit dabei. Ihre Musik. Auf dem Weg, der Fahrt ins Sauerland. Am Grab selbst auch, in meinem inneren Ohr. Wandern. Im Geiste wanderten wir durch eine unvollendete Biografie. Und dort waren wir alle drei wohl schon „auf komischen Wegen“. „Haben uns beiden keine gute Zeit gegeben, doch jede Erfahrung darf auch irgendwann wieder gehen, unsere Erinnerungen sollen uns nie im Weg stehen. Wir lassen sie gehen, gehen, gehen“, und ich ließ Dich gehen, Bettina. Gehen, gehen, gehen. „Wir rennen nicht weg vor dem, was wir erleben. Wir bleiben dran und werden auch diesmal alles geben. Und alles, was wehtut darf auch irgendwann wieder gehen.“ So sang Nena im Auto und am Grab in meinem Ohr und ich weinte und trauerte und atmete schwer und fühlte mich gleichzeitig wie in einem sicheren Netz aus Musik und warmen Worten, einem Teppich aus musikalisch sanften Klängen umarmt, verstanden, gehört.
„Du und ich wir wandern und immer geht es irgendwohin, von einem Ort zum andern, wo wir sein können, wer wir sind, wo grad alles wieder stimmt“, und ich spüre Dich noch, wie Du warst, zu Lebzeiten, gesund, voller Träume und Ideen, aber auch all den Kummer und Schmerz, die Wunden der Seele, die niemals heilten, in meiner Nase den Geruch Deines Parfums, dass Du immer, all die Jahre trugst, seit ich Kind war und Du meine geliebte Patentante Nena.
„Wir kennen das Gefühl getrennt zu sein, und doch sind wir für alle Zeit verbunden. Wir kennen das Gefühl verloren zu sein. Wir haben uns nicht gesucht, aber gefunden. Wir lassen uns gehen, gehen, gehen“, und dann lass ich Dich gehen, gehen, gehen. In Dankbarkeit und auch in Schuld, Du hast mir so viel geschenkt: Liebe, Worte, Erinnerung, Geschichten und wundervolle Dinge. Ich wünschte, ich hätte mehr davon zurückgeben können, ein wenig mehr nur da sein können, in den vielen traurigen, dunklen, einsamen Tagen, die Deinem Tod vorausgingen.
„Wie nah und fern wir uns sein können und auch zeigen, wie oft wir zu viel reden und würden lieber mit uns schweigen und alles was uns schwer fällt ist uns nie mehr zu schwer. Schenk mir ein bisschen Mut, ich weiß, es wird alles wieder gut.“ Dieser so besondere Song, diese sanfte Melodie, diese klaren Worte und Nenas Stimme, sie waren bei mir, als ich Dir Danke und Auf Wiedersehen sagte. Ein Bild von Dir, auf dem ich als Kind dachte, dass Du Nena bist, das steht nun bei mir zu Hause und, wenn ich es anschaue, dann weiß ich, dass wir wandern. Die Spuren im Sand, die Melodien, Worte und Gerüche, nichts verschwindet, es wandert nur, alles überdauert, auch, wenn es das äußere Auge nicht mehr sieht. WANDERN.
Über “Hörst du es auch”
In dieser regelmäßigen Kolumne teilt Redakteurin Melanie Baier ihre persönlichen Gefühle und Erfahrungen zu einzelnen Songs.