Possessor – Film
Tasya Vos ist eine Profikillerin. Eine der besten ihres Fachs. Im Universum nebenan, 2008 in Toronto, tüftelt man allerdings keine Pläne aus, legt sich auf die Lauer, beobachtet und schlägt zu, man okkupiert das Bewusstsein eines Menschen, der dem potenziellen Opfer problemlos nahe kommen kann, führt den Mordauftrag aus und lässt das menschliche Tatwerkzeug Selbstmord gehen.
Gleich zu Beginn kommt es zu Irritationen. Denn Tasya gelingt nach blutig erfolgter Messerattacke der Suizid nicht, und die junge Hostess muss von der Polizei erschossen werden. Unbill abgewehrt, aber eine Verschiebung nimmt ihren Anfang. Der folgende Test bescheinigt Tasya Arbeitsfähigkeit. Erinnerungen, Gefühle, die an ihren Job gebunden werden, können aus dem Stegreif abgerufen werden. Nur weit im Hintergrund rufen Ex-Mann Michael und der gemeinsame Sohn nach der gemeinsamen Geschichte. Die junge Frau muss familiäre Gefühle und Reaktionen einstudieren, das emotionale Miteinander ist dem Beruf zum Opfer gefallen.
Der nächste Auftrag ruft. Tasya soll den mächtigen Technologie-Unternehmer John Parse sowie dessen Tochter Ava eliminieren. Der ausführende Killer soll Avas windiger Verlobter Colin werden. Die Infiltration gestaltet sich schwierig aber problemlos, doch Tasya gelingt es nicht komplett Colins Bewusstsein zu übernehmen. Gedanken, Erinnerungen vermischen sich, die Mordausführung wird zur Bedrohung für Tasya. Andere Identitäten mischen sich ein, am Ende steht ein Showdown der unangenehmen Art. Die Überwindung der Menschlichkeit als zielgerichtete Systematik des Weitermachens. Ein konsequentes Finale.
“Possessor” besitzt von Beginn eine unbehagliche Atmosphäre, zeigt Entfremdung, Verunsicherung, Beklemmung, das Verloren sein in Zirkeln und Art Deco-Architektur und explodiert fast umgehend in Blutrot. Ein kalter Sog, der seine Zuschauer in einen Strudel reißt, aus dem sich erst langsam Schemen, Motive, Hintergründe formen. Wir folgen Holly, einer jungen Schwarzen, die einen Mann in einer Hotel-Lobby brutal mit einem Teppichmesser aufschlitzt. Ströme von Blut, eine Mischung aus Erstaunen und Entsetzen bei der jungen Mörderin, der vergebliche Versuch, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Die Exekution wird schließlich von eintreffenden Polizisten erledigt – Schnitt. Tasya Voss taucht aus dem Bewusstsein Hollys auf, mit der sie durch eine Apparatur verbunden war, um parasitär den Mord zu begehen. Identitätsdiebstahl der abgefeimten Sorte.
Brandon Cronenberg, David Cronebergs Sohn, lässt sich Zeit, gibt seinen Bildern die Möglichkeit nachzuwirken, durchgestylte Oberflächen werden zu kalten Spiegeln zerstörter Bewusstseinsebenen. Die eigene Geschichte wird zum Abstraktum, eingepaukte Erinnerungen übernehmen die Macht, Emotionen müssen geübt werden. Die fast durchscheinende Andrea Riseborough (“Mandy”!!!) bietet die perfekte Folie für diese Killerparasitin, die trotz ihrer Erfolge und des unermüdlichen Trainings nicht davor gefeit ist, während der Okkupation eines anderen Egos zu zersplittern.
Christopher Abbott spielt den auserkorenen Killer gekonnt zwischen Verletzlichkeit, somnambulem treiben lassen und einer erstaunten Unberechenbarkeit, die den gesamten Mordauftrag in Gefahr bringen. An Tasyas Seite wacht ihre Vorgesetzte, die sie zur Nachfolgerein auserkoren hat – falls Tasya halbwegs heil aus dem zerstörerischen Geisteslabyrinth herauskommt. Die Frau im Halbdunkel wird gespielt von der immer gern gesehenen, diesmal kaum identifizierbaren, Jennifer Jason Leigh. Ein Musterbeispiel trügerischer Ruhe, am Ende verantwortlich für einen fiesen Twist.
Davor folgt der Film Colin bei ermüdender Arbeit, die Begutachtung von Vorhängen und anderen Accessoires via Sicherheitskameras, eine nie erklärte und scheinbar selbstverständliche Observation, inklusive Betrachtung von Liebesspielen, die in einem Fall hardcoremäßig ausgeführt werden. Der Zuschauer als zwangsverpflichteter Voyeur. Colin möchte dem reichen Schwiegervater in spe gefallen und erntet doch nur Häme. Der perfekte Vorwand für seinen späteren vermeintlichen Ausraster. Auch hier hält Cronenberg die Kamera voll drauf. Sex, Gewalt und Tod verschandeln das fast aseptische Interieur. Alles nur, weil jemand Geschäfte machen, respektive übernehmen will. Zwar ist der Bruder Avas der Auftraggeber, doch verspricht sich die (multinationale) Firma Tasyas eine Firmenübernahme, wenn der einflussreiche John Parse weg vom Fenster ist.
SPOILER: Sean Bean entkommt zwar knapp seinem Death-Reel-Meme, das ereilte Schicksal lässt ihn aber vermutlich wünschen, doch drauf gelandet zu sein. SPOILER-Ende.
“Possessor” ist ein kunstvoller, zwischen Meditation und psychedelischem Schlachtfest angesiedelter Trip zum Ende der Menschlichkeit. Gefühle und Bewusstsein sind austauschbar, Individualität kaum ein Schimmer in glitzernden Oberflächenreizen. Die Welt ist ein Modell, das Geschäftemacher untereinander aufteilen. Weniger Dystopie als ein abseitiger Pfad, der direkt zur gegenwärtigen Realität führt. Ein erlesen stilisierter Neo-Noir, der sich in einem Mix aus Science Fiction und Horror ausmehrt. Der Gegenentwurf, beziehungsweise die perfekte Ergänzung zu “Blade Runner”. Wo dort die Replikanten eine Seele entwickeln, wird sie dem Menschen in “Possessor” entzogen.
Keine Träume von elektrischen Schafen, geträumt wird nur, wenn es die gewünschte Biographie verlangt. So wird Andrea Riseborough zum wahren Terminator. “Possessor” ist ein verstörender, visuell lodernder Alptraum und unbedingt sehenswert.
Nach dem stilistisch durchaus ähnlichen “Titane” sorgt Jim Wiiliams zudem wieder für einen enorm passgenauen, abgründigen Soundtrack, der auch ohne den Film für wohliges Unbehagen sorgt.
Cover & Szenenfotos © Turbine Medien
- Titel: Possessor
- Originaltitel: Possessor
- Produktionsland und -jahr: Kanada, Großbritannien, USA 2020
- Genre: Science-Fiction, Noir, Horror
- Erschienen: 11.02.2022
- Label: Turbine Medien
- Spielzeit:
103 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Andrea Riseborough
Christopher Abbott
Jennifer Jason Leigh
Sean Bean - Regie: Brandon Cronenberg
- Drehbuch: Brandon Cronenberg
- Kamera: Karim Hussain
- Schnitt: Matthew Hannam
- Musik: Jim Williams
- Extras: Featurettes mit den Filmemachern und Schauspielern: Identitätskrise über die Charaktere und Psychologie (ca. 14 Min.), Eine überhöhte Welt über den Look (ca. 10 Min.), Die Freude am Praktischen über die Spezialeffekte (ca. 12 Min.) – 3 entfernte Szenen (ca. 8 Min.) – Trailer aus Deutschland und USA
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 1,78:1 (1080p24 Full HD)
Sprachen/Ton: Deutsch Dolby Atmos, Deutsch DTS 2.0, Englisch Dolby Atmos, Englisch DTS 2.0
Untertitel: D,E - FSK: 18
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 13/15 dpt