Liebevolle Milieustudien
Kann man sich etwas Widersprüchlicheres vorstellen? Plattenbau und Liebe, in einem Atemzug?
Aber vielleicht muss ein von einer Fußpflegerin geschriebenes Buch ja so einen seltsamen Titel haben. Weil man es sich anders gar nicht denken kann als kurios. Als abwegig. Eine Schriftstellerin, die den Beruf der Fußpflegerin ergreift, ist jedenfalls ebenso unvorstellbar wie eine schriftstellernde Fußpflegerin, oder?
Vielleicht ist der Titel ja auch als Komödie gedacht, als Comedy. Wer hat nicht sofort die Cindy aus Marzahn vor dem inneren Auge, jene von der Schauspielerin Ilka Bessin geschaffene Kunstfigur, die als Hartz-4-Ikone das sozialschwache Ost-Milieu präsentierte wie keine andere, mit viel Berliner Schnauze und dem Herz auf der Zunge.
Oskamp wird sich dieser Klischees bewusst gewesen sein, als sie sich für den Buchtitel entschied. Aber daran, diese Klischees einzulösen, hat sie nie gedacht. Im Gegenteil.
Bereits nach wenigen Seiten fragt man sich, warum Füße eigentlich so ein schlechtes Image haben. Nichts ist wichtiger im Laufe eines Menschenlebens. Lebenswege werden nun einmal mit den Füßen beschritten. Und ebenso fragt man sich: wieso der Beruf einer Fußpflegerin eigentlich so gering geschätzt wird. Fußpflege ist deutlich mehr als eine Dienstleistung, die sich auf ein Körperteil konzentriert. Sie schenkt den Behandelten das Gefühl, wahrgenommen zu werden. Es verbessert, wenn auch nur für einen überschaubaren Zeitraum, die Lebensqualität von Menschen. Es bestätigt sie in ihrer Würde.
Jedes ihrer Kapitel widmet Oskamp einer anderen Person. Ihre Erzählungen sind kleine Milieustudien. Einzel-Porträts: wunderbar zart, humorvoll, liebevoll. In nicht wenigen Lebensgeschichten spiegelt sich auch die große Geschichte wider: der Zweite Weltkrieg, die DDR, die Wiedervereinigung. Doch bei Oskamp geht das Einzelschicksal immer vor der Historie.
In keinem einzigen Moment verliert die Autorin den Respekt vor ihren Figuren. So kurios und unterschiedlich die Geschichten ihrer Protagonisten auch sind, so humorvoll manches Detail auch erscheinen mag, nie gibt Oskamp auch nur eine einzige ihrer Figuren der Lächerlichkeit preis.
Die Autorin braucht nicht viele Worte, um die Lebensgeschichten ihrer Kundinnen und Kunden zu Papier zu bringen. Sie besitzt nicht nur eine scharfe Beobachtungsgabe und eine tiefe Empathie, sie verfügt auch über einen präzisen Stil. Ihr reichen wenige Pinselstriche, um ein vollendetes Porträt zu entwerfen. Dabei stellt sie die Befindlichkeiten ihrer Erzählerin zurück und überlässt den Raum ganz den “kleinen Leuten”, denen sie mit ihren Geschichten ein Denkmal setzt.
„ …während ich mich aufschwinge zu einer Hymne über Marzahn und seine Bewohner, über diese Leute, die dort vor vierzig Jahren hingezogen sind und jetzt mit Rollator, Sauerstoffgerät und Mindestrente tapfer ihr Leben zu Ende bringen, die manchmal tagelang mit niemandem reden, die uns (…) ihre hungrigen Herzen ausschütten, jede Berührung dankbar aufsaugen und glücklich sind an diesem Ort, an dem sie nicht wie die Vollidioten der Nation behandelt werden …“ (Seite 92)
Die wahre Geschichte hinter dem autobiografisch inspirierten Roman erscheint wie die klassische Ironie des Schicksals. Die Schriftstellerin Oskamp findet den Stoff für ihr bisher erfolgreichstes Buch ausgerechnet, als sie sich einem anderen – dem Schreiben entfernten – Beruf zuwendet.
Aber vielleicht ist diese Fügung überhaupt nicht so abwegig. Denn – auch das zeigt Oskamp in ihrem wunderbaren kleinen Roman: Das Leben selbst „schreibt“ die interessantesten Geschichten. Und diese hat sie als Fußpflegerin ungefiltert einsammeln können.
Oskamps ungewöhnlich erscheinender Berufswechsel ist ein literarischer Glückfall. Die Autorin verbindet Authentizität und Herzenswärme zu einem Buch, das man unbedingt jedem empfehlen möchte!
- Autor: Katja Oskamp
- Titel: Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin
- Verlag: Verlagsname Suhrkamp Verlag
- Erschienen: März 2021
- Einband: Gebundener Einband
- Seiten: 142 Seiten
- ISBN: 978-3518471319
Wertung: 14/15 dpt