Wie ein Countdown inszeniert
Bereits zu Beginn ist klar: Hier bahnt sich eine Katastrophe an. Ein Gast weckt das Misstrauen von Campingplatzbesitzer Saša. Dieser lebt zurückgezogen mitten im Naturschutzgebiet. Doch die Idylle trügt, denn Saša hat in der Vergangenheit eine große Schuld auf sich geladen. Dieses Geheimnis scheint der Fremde zu kennen.
Der Roman beginnt also mit einem Rätsel, dessen Auflösung die Spannung von Kapitel zu Kapitel steigert. Wie bei einem Thriller richtet Kaśka Bryla alles auf ein dramatisches Finale aus. Sie lässt zwei chronologisch gegeneinander laufende Handlungsstränge wie zwei Countdowns herunter ticken.
Während Saša sich rückwärts erzählend seinem Geheimnis nähert, wird die Handlung um die übrigen Protagonisten wie in einem Film chronologisch aufgerollt.
Im Mittelpunkt stehen die Jugendlichen Iga, Jess und Ras. Die drei Außenseiter freunden sich an. Bryla wechselt die Erzählperspektive jeweils passend zu ihren Protagonisten, damit wir diese kennen lernen. Alles beginnt harmlos. Erste Liebe, Schulprobleme, der Wunsch nach Anerkennung, das sind die Themen, die die Jugendlichen bewegen.
Doch schleichend wandelt sich der Ton. Surreale Elemente finden Eingang in Brylas Erzählen. Man ahnt, dass Ras von einer psychischen Störung geplagt wird. Iga verstrickt sich in eine gefährliche Affäre mit ihrer Lehrerin. Geschickt weitet Bryla die Aktionsgrenzen ihrer Figuren aus. Deren Tun wird immer extremer, ihre Emotionen intensiver, ihr Denken kompromissloser.
„Die Eistaucher“ ist die Geschichte einer schleichenden Radikalisierung. Je fester die Protagonisten Halt aneinander finden, desto mehr verlieren sie ihren Halt in der Gesellschaft. Bryla zeichnet präzise, wie das Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten immer enger wird.
Die Autorin nimmt sich viel Raum, um ihre Figuren zu entwickeln. Die Charaktere sind authentisch, ihr Handeln erscheint glaubhaft. Die Leichtigkeit, mit der Bryla gleich verschiedene queere Liebesgeschichten inszeniert, bereitet Freude. Alles in allem erzeugt sie einen Sog, mit dem sie ihre Leser*innen mitreißt.
Am Ende des Romans kommt dann alles sehr schnell. Vielleicht etwas zu schnell. Die Fragen, die Kaśka Bryla offen lässt, bringen das bis dahin perfekt arrangierte Gesamtkonzept in ein leichtes Ungleichgewicht. Vor allem die Figur Saša bleibt relativ blass im Vergleich zu den übrigen sehr ausführlich ausgearbeiteten Charakteren.
Dem Lektüregenuss tut das bis zu diesem Augenblick keinen Abbruch. Trotzdem: einige Seiten mehr hätten dem Roman aus meiner Sicht gut gestanden. Manche Gleichungen hätte ich am Ende gerne aufgelöst gefunden. Zu einigen surrealen Begebenheiten hätte ich mir zumindest die Andeutung einer Interpretation gewünscht.
„Die Eistaucher“, erschienen im Residenz Verlag, ist nach „Roter Affe“(2020) der zweite Roman von Kaśka Bryla.
- Autor: Kaśka Bryla
- Titel: Die Eistaucher
- Verlag: Residenz Verlag
- Erschienen: 1. März 2022
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 320 Seiten
- ISBN: 978-3701717514
Wertung: 12/15 dpt