Eine Mutter, die ihr Kind nicht lieben kann, schöpft einen grausamen Verdacht
Violet ist das ersehnte Wunschkind von Blythe und ihrem Mann Fox. Doch bereits wenige Wochen nach der Geburt bemerkt die Ich-Erzählerin, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt. Violet ist zu ihrem Vater liebevoll und zärtlich, doch zu ihrer Mutter abweisend und kalt. Die Abneigung der beiden weiblichen Figuren zueinander wird immer größer, wie die Wut und der Hass.
Fox beobachtet seine Frau mit immer größerem Unbehagen und Misstrauen, die vormals schöne Ehe gerät ins Wanken.
Als das zweite Kind zur Welt kommt, scheint das Familienglück wiederhergestellt. Sam vergöttert seine Mutter und Blythe vergöttert ihren Sohn. In ihm findet sie alles, was sie sich jemals gewünscht hat: ihre eigenen mütterlichen Gefühle und das Gefühl, gebraucht zu werden.
Doch die Illusion des oberflächlichen Glücks entgleitet der Familie und Blythe muss sich der Wahrheit und einem grausamen Verdacht stellen.
Der Roman ist aufgebaut, als würde Blythe den Vater ihrer Kinder, Fox, persönlich ansprechen und ihm das bereits Geschehene erzählen. Wie sie sich kennenlernten, zusammenzogen, heirateten. Wie Violet auf die Welt kam, geliebt von ihrem Vater, angstvoll betrachtet von ihrer Mutter. Die Geburt von Sam, das Zerbrechen der Ehe und das Kämpfen, nicht an den eigenen Gefühlen zu ersticken.
Doch auch Rückblenden aus den Leben und den Mutterschaften von Etta und Cecilia, Großmutter und Mutter von Blythe, werden beschrieben. Die gestörten Beziehungen zwischen den Frauen, das Nicht-Zurechtfinden in der (erzwungenen) Mutterschaft, die Angst und das Gefühl des Versagens beschreibt die Autorin mit brutaler Ehrlichkeit und ohne einen Hauch von Ver- oder Beurteilung.
Eindrucksvoll und doch ungekünstelt, direkt und ehrlich lässt die Autorin Blythe die Geschichte erzählen.
Durch die Ich-Erzählstruktur und dem Du-Stil, mit dem eigentlich Fox angesprochen wird, entsteht eine Nähe und eine Distanzlosigkeit, die den Schrecken noch vergrößern. Das Mitfühlen der Angst, der Verzweiflung, der Trauer und der Hoffnungslosigkeit genauso wie auch die Freude und die Hoffnung, rücken damit ganz nah und werden persönlich.
Obwohl die Wortwahl und die Sätze so einfach und klar erscheinen, steckt doch diese Wucht dahinter. Unbeschreibliche Gefühle drückt die Autorin mit einer Prägnanz und Klarheit aus, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, eine solch stilistische Brillanz zu besitzen.
Es fühlt sich an, als würde man das sehr sauber geführte Tagebuch einer Person finden und darin lesen. Gefühle und Situationen, die man niemanden erzählen wollte oder konnte, wurden dem Papier anvertraut. Es fühlt sich an, als würde man beklommen die persönlichsten Gedanken einer Person lesen und darin versinken – sich vielleicht wiederfinden, vielleicht entsetzt oder sogar abgestoßen sein.
Der Sog des Grauens zerrt mit jedem Satz und jeder Seite weiter in die Tiefe. Die entsetze Frage: Kann es denn überhaupt noch schlimmer werden? kann schnell beantwortet werden: Ja. Es kann und es wird schlimmer.
Der Verdacht ist ein Roman über drei authentische und ehrliche Leben mit tiefen Gefühlswelten und dem Vermächtnis, dass die Frauen an ihre Töchter weitergeben. Ein Roman über Elternschaft, über die eigenen Erwartungen, über den Druck der Gesellschaft perfekte Mütter sein zu müssen und dem Kind bedingungslose Liebe zu zeigen, egal was komme. Selbst wenn man es nicht kann.
Mit Der Verdacht schuf Ashley Audrain einen Roman, der seinesgleichen sucht. Ein erschütterndes Meisterwerk, was nichts für schwache Nerven ist. Bedrückend und mitreißend zugleich.
Wertung: 15/15 dpt
- Autorin: Ashley Audrain
- Titel: Der Verdacht
- Originaltitel: The Push
- Übersetzer*innen: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
- Verlag: Penguin Verlag
- Erschienen: 03/2021
- Einband: Hardcover
- Seiten: 320
- ISBN: 978-3-328-60144-9
- Sonstige Informationen:
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