Sayaka Murata – Das Seidenraupenzimmer (Buch)


©atb

Natsuki ist nicht von dieser Welt. Das stellt sie schon in jungen Jahren fest. Gemeinsam mit ihrem Cousin Yu flüchtet sie sich auf den Planeten Pohapipinpopopia, um dem Schicksal dieser Welt, deren Logik sie nicht folgen kann zu entgehen.

Diese ersten Sätze könnten so auch ein illustres Kinderbuch zusammenfassen. Doch dies wäre bei dem zweiten Werk Sayaka Muratas weit gefehlt.

Wähnt man sich auf den ersten Seiten noch in der wohligen Sicherheit einer kindlich unbefangenen Beschreibung der Landschaft Akishinas, wird auf den darauffolgenden schnell klar, dass dies lediglich das Heranführen an den Abgrund der japanischen Gesellschaft ist. Die Stadt, in der sie wohnt, bezeichnet Natsuki als „Fabrik“. Die Menschen, die den Normen und Werten dieser Fabrik entsprechen sind für sie „Werkzeuge“, da ihre einzige Funktion daraus besteht, zu heiraten, in ihren „Nistkästen“ Nachkommen zu zeugen und sich dem Konsum hinzugeben.

In den Nestern wimmelte es von Männchen und Weibchen, deren Körper die Produktionsmittel der Fabrik bargen.

Bereits im Kindesalter wird Natsuki auf brutalste Weise vermittelt, welche Folgen es hat, wenn man sich nicht an die Normen und Werte der Fabrik hält. Schnell wird klar, wie wenig Hoffnung in diesem Kind wohnt, das nicht nur seelisch von ihr nahestehenden Personen malträtiert wird. Der Körper Natsukis scheint diese Tortur nur zu überstehen, weil sie ihn schützt. Dieser Schutz besteht zum einen aus der innigen Beziehung zu ihrem Cousin Yu, zum anderen aus ihrer Fantasie. Sie wird zum „Magical Girl“ und kann sich mithilfe einer kleinen weißen Plüsch-Maus namens Pyut vor den verbalen wie auch körperlichen Übergriffen schützen, indem sie ihren Körper verlässt und sich auf ihre ganz eigene Metaebene begibt.

Ich musste zaubern, um zu überleben. Musste leer werden und gehorchen.

Als Erwachsene hält sie weiter daran fest nicht den gesellschaftlichen Normvorstellungen entsprechen zu können. Auf der Online-Plattform „Drückdich.com“, die für Menschen gedacht ist, die dem Druck der Familie und Gesellschaft entgehen wollen, findet sie Tomoobi. Mit diesem geht sie eine rein formelle Ehe ein und reist mit ihm nach Akishina, um ihrer Bestimmung als Außerirdische zu folgen, was groteske Ausmaße annimmt.

Wie bereits in ihrem ersten Roman konfrontiert Murata die Lesenden in „Das Seidenraupenzimmer” mit einer Außenseiterin, die die althergebrachten Konventionen ihres Umfelds infrage stellt und dafür mit Missachtung bis hin zur Gewalt gestraft wird. Mit ihrem zweiten Roman geht die Autorin mehr als einen Schritt weiter, was die Kritik an der japanischen Gesellschaft betrifft. Diese Schritte werden gen Ende des Romans beim Lesen schwerfälliger. Nicht selten kommt es vor, dass man aufgrund des bedrückenden Sprachgebrauchs innehält. Vor allem auf den letzten Seiten beschreibt die Autorin prononciert, wie groß das Bestreben Natsukis ist, sich dieser Gesellschaft zu entziehen und ihre persönliche Heilung zu finden, denn auch vor dem Undenkbaren schreckt ihre Protagonistin am Ende nicht zurück.

Wer „Die Ladenhüterin“ für eine genussvolle Lektüre hielt und jetzt nach einem weiteren intensiven, wenn auch weitaus radikaleren Blick auf die Konventionen der japanischen Gesellschaft Ausschau hält, ist mit diesem Werk gut beraten.

  • Autor: Sayaka Murata
  • Titel: Das Seidenraupenzimmer
  • Originaltitel: Chikyu Seijin
  • Übersetzer: Ursula Gräfe
  • Verlag: atb
  • Erschienen: 2020
  • Einband: Softcover
  • Seiten: 256
  • ISBN: 978-3-7466-3859-1
  • Sonstige Informationen:
  • Produktseite 
  • Erwerbsmöglichkeiten


Wertung: 13/15 dpt


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