Geschichten, die
die Welt sichtbar machen
„Ich habe die Welt noch nicht gesehen. Deshalb ist es so leicht für mich, sie zu verurteilen“, lässt die norwegische Autorin Roskva Koritzinsky ihre Ich-Erzählerin in der titelgebenden Erzählung sagen. Erst nach dem Tod des Geliebten reflektiert diese sein Verhalten. Sie sieht genauer hin und verwandelt ihr Sehen in ein Verstehen.
Das Hinsehen ist das zentrale Motiv in diesem schmalen Band, in dem die Autorin auf nur 92 Seiten fünf Erzählungen konzentriert.
Koritzinsky lenkt den Blick ihrer Leserschaft auf die kleinen Details. Nebensächliches steht ebenso groß im Raum wie scheinbar wichtiges. Dadurch verschiebt sie unsere Wahrnehmung. Die tatsächlichen Ereignisse verlieren an Relevanz. Sie gewinnen ihre Bedeutung durch das emotionale Echo, welches sie hervorrufen.
So wird der Schmutzrand auf dem Kragen einer Bluse zum rührenden Symbol der Liebe einer Mutter zu ihrer Tochter, während in ein und derselben Erzählung („Eine einsame Falte auf der Stirn“) ein Wohnungseinbruch und der Diebstahl von sieben Hundewelpen kaum eine Reaktion auslöst.
Die Erzählungen bewegen sich zwischen den Ereignissen. Sie streifen das Unausgesprochene zwischen den Menschen. Beschreiben die Distanz, die immer bleibt. Ebenso wie die Sehnsucht, diese zu überwinden.
Eine junge Frau weiß „Nichts von der Liebe“, so der Titel der gleichnamigen Erzählung, aber sie versucht sich ihr zu nähern. In „Die Geschichte von den Händen“ fügt eine Tochter ihre Erinnerungen an den Vater zusammen, der ihr immer fremd geblieben ist. Sie will ihn verstehen. Die Reise in die Vergangenheit wird zur Liebeserklärung.
Koritzinskys Hinsehen ist eher ein Hineinsehen, ein ständiges Ringen, die letzte Grenze zu überwinden, die jedes Individuum vom anderen trennt. So sind ihre Erzählungen durchdrungen von starker Melancholie, denn mehr als eine Annäherung gelingt am Ende nicht, kann am Ende nie gelingen. Und manchmal wie in „Von der anderen Seite“ und „Gebete und Anklagen“ gelingt den Protagonisten noch nicht einmal das.
Die Autorin geht behutsam mit ihren Worten um. Jeder Satz trägt eine große Bedeutung. Trotz des schmalen Umfangs ist der Erzählband nicht schnell „weggelesen“. Die erzeugten Bilder sind dicht und fordern ein hohes Maß an Bereitschaft, sich auf die induzierte Sehweise einzulassen.
Die Belohnung dafür ist ein sehr besonderes Lese-Erlebnis, dessen Zauber lange nachhallt.
Roskva Koritzinsky stand mit ihrem Erzählband 2018 auf der Shortlist des Literaturpreises des Nordischen Rates.
2019 sind ihre Erzählungen, von Andreas Donat ins Deutsche übersetzt, im Karl Rauch Verlag erschienen.
- Autorin: Roskva Koritzinsky
- Titel: Ich habe die Welt noch nicht gesehen
- Übersetzer: Andreas Donat
- Verlag: Karl Rauch Verlag
- Erschienen: August 2019
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 96
- ISBN: 978-3792002605
Wertung: 13/15 dpt