Feinste Fantasy fürs Kopfkino
Es ist ein beliebter Kniff beim Erzählen von Horrorgeschichten in Film oder Literatur, die Handlung aus Sicht eines Kindes darzustellen. Der unschuldige Blick, etwas naiv, der vielleicht nicht immer alle Zusammenhänge begreift, dafür aber andere weitaus früher intuitiv erahnt, das erzeugt ein Spannungsfeld zwischen Protagonist und Publikum.
In Neil Gaimans „Der Ozean am Ende der Straße“ ist es ein Siebenjähriger, der zum Ich-Erzähler wird. Aber eigentlich ist das nicht ganz richtig. Denn es ist der Erwachsene, der in die Erinnerungen seines siebenjährigen Ichs eintaucht und daraus schöpft. So lenkt Gaiman die Geschichte also sogar durch zwei Linsen ins Auge seiner Leserschaft und kann mit allen Variablen der Phantasie und Wahrheit spielen.
Es beginnt mit folgender Rahmenhandlung: Ein Mann kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück. Mit der vertrauten Umgebung setzt das Erinnern ein. Er nimmt die Perspektive des Kindes an und erzählt.
Von Beginn an liegt etwas Vages, schwer Greifbares, zuweilen auch Unglaubwürdiges in den Worten des Ich-Erzählers, der sich nur langsam in die Vergangenheit hinein tastet.
Die Begegnung mit der Nachbarstochter Lettie markiert einen Wendepunkt in der Geschichte. Der schüchterne Siebenjährige freundet sich mit der seltsam altklugen Elfjährigen an. Ein Geheimnis umgibt das Mädchen und ihre Familie, die nur aus Mutter und Großmutter besteht.
„Elf.“
Ich dachte einen Moment lang nach. Dann fragte ich: Wie lange bist du schon elf?“
Sie lächelte mich an.
(Seite 61)
Die Erinnerungen des Ich-Erzählers werden zunehmend konkreter und mit ihnen öffnet sich der Blick auf eine phantastische Welt neben der realen Welt. Gaiman erzeugt einen völlig eigenen Kosmos, durch den der Ich-Erzähler wie durch einen (Alp-)Traum wandelt. Die sicheren Grenzen der Realität lösen sich immer stärker auf. Der Raum öffnet sich für die klassischen Urängste, die an das Existenzielle rühren.
(Seite 96)
Es ist ebenfalls ein beliebter Trick bei solch fantastischer Literatur das Erzählte als einen Traum, als etwas Nicht-Wirklich-Passiertes aufzulösen und dabei zugleich berechtigte Zweifel an dieser Interpretation zu säen. Auch Gaiman bedient sich dieses Kunstgriffs. Und er macht es meisterhaft. Denn er schließt den Kreis seiner Geschichte nicht einfach. Er gibt den durch sie erzeugten offenen Raum der Möglichkeiten weiter an seine Leserschaft. Er überlässt ihr die Interpretation.
Die Leser*innen entscheiden, woran sie glauben möchten. Und das, woran sie glauben, erscheint ihnen real. Die Geschichte wird dadurch zu einer Erfindung von vielen. Ähnlich wie es beim klassischen Mythos der Fall ist.
„Ich mochte Mythen“,
lässt Gaiman seinen Ich-Erzähler sagen – man spürt dahinter buchstäblich das Augenzwinkern des Autors –
„Das waren keine Geschichten für Erwachsene, aber es waren auch keine Kindergeschichten. Sie waren besser. Denn sie waren.“
(Seite 99/Seite 102)
Und was ist nun mit „Der Ozean am Ende der Straße?“ Ist es ein Buch für Erwachsene? Eine Kindergeschichte wie die illustrierte Aufmachung vielleicht suggeriert?
Es ist Fantasy vom Feinsten: Dunkel, schwer und abgründig, aus dessen Mitte, zart aber sehr beständig, eine tröstende Poesie heraus leuchtet.
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Die Illustrationen von Elise Hurst verdienen eine besondere Betrachtung. Hursts wunderschöne Bilder sind perfekt zur Handlung im Buch platziert. Sie sind hoch ästhetisch, jedes einzelne ein absoluter Augenschmaus. Und: Anders als bei Illustrationen meist üblich, die das Erzählte abbilden und dem Leser damit eine festlegende Interpretation anbieten, sind ihre Zeichnungen eine zusätzliche Stimulanz, die die eigene Vorstellungskraft anregen und zu weiteren eigenen Interpretationen herausfordern.
- Autor: Neil Gaiman
- Titel: Der Ozean am Ende der Straße
- Originaltitel: The Ocean at the End of the Lane
- Übersetzer: Hannes Riffel
- Verlag: Eichborn
- Erschienen: April 2021
- Einband: Gebundene Ausgabe
- Seiten: 336
- ISBN: 978-3847900719
Wertung: 13/15 dpt