Die „Orwellsche Geschichte“ einer globalen Denkerin
In einer nicht näher benannten Stadt im Nahen Osten steht ein Tor, welches für die Bürokratie der Stadt zuständig ist. Die Bürger*innen brauchen für alles eine Genehmigung des Tors, sei es, weil sie Brot kaufen möchten oder sich eine Pistolenkugel aus dem Körper entfernen lassen wollen. Doch seit einer blutigen Revolution öffnet sich das Tor nicht mehr und die Bürokratie verschärft sich. Es ist surreal, skurril – und tödlich.
Immer mehr Gesetze werden erlassen und immer mehr Menschen sammeln sich vor dem Tor. Die Schlange wird länger und länger und die Menschen leben zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, ob sich das Tor öffnen wird.
Das autoritäre Regime wird unterdessen immer strenger: Handys werden abgehört, fragwürdig erscheinende Menschen verschwinden, Medien verbreiten Informationen nur noch zugunsten des Tors, Demonstrationen werden blutig niedergeschlagen und danach wird der Ausfall des Militärs gegen einfache Bürger*innen sogar geleugnet.
Die Dystopie begleitet mehrere Menschen durch ihre Geschichte: da gibt es einmal Yahya, der sich monatelang mit einer Kugel im Bauch herumschleppen muss, die vom Staat geleugnet wird. Umm, die ihrer Tochter eine Operation ermöglichen möchte. Ines, die ihre Eignung als Lehrerin unter Beweis stellen muss und Tarik, ein junger Arzt, der darunter leidet, seinen Patient*innen nicht helfen zu können.
Unterschiedliche Leben und Vorstellungen und doch verbindet sie eine Sache: das Warten ohne Gewissheit. Ihr neues Leben spielt sich im nahen Umkreis des Tores ab. Die Wartenden bilden enge Freundschaften oder tiefe Feindschaften in der Schlange. Ihre Vergangenheit und Beweggründe werden preisgegeben und auch ihre Hoffnungen, die langsam zermalmt werden.
Die Autorin erschuf ein Werk, dass surreal wirken mag und doch in manchen Ländern nicht weit von der Realität entfernt liegt.
Die Gefühle der Charaktere, die zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit schwanken und in die Ungewissheit blicken, werden nachvollziehbar, aber mit einer gewissen Nüchternheit und Distanz beschrieben.
Es ist ein Werk, welches in einfacher und leicht verständlicher Sprache verfasst wurde und ist doch nichts für einfach so zwischendurch.
Obwohl sich das Leben der Figuren größtenteils um die Hoffnung auf die Öffnung des Tors und die Beschlüsse dreht, wird es nicht langweilig. Manchmal wirkt es zäh – genauso zäh wie das Warten in der großen Hitze, doch im nächsten Moment nimmt das Werk wieder an Fahrt auf. Hier und da ein Hoffnungsschimmer, etwas zum Festklammern und zum aktiv werden, um dann gleich darauf wieder enttäuscht zurückzusinken.
Leider erfährt man nichts über die Hintergründe des Regimes, nichts Näheres über das Tor. Man beobachtet und wartet, schaut von außen auf das Tor und hofft.
Aber eventuell ist es genau das, was die Autorin erreichen möchte: einfache Bürger*innen sind einem willkürlich agierenden Regime hilflos ausgeliefert, sie haben keine Möglichkeit hinter die Kulissen zu schauen, sie müssen sich beugen um zu überleben. Warten und hoffen.
Nachdem ich das Buch beendet habe, waren da eine Menge unbeantworteter Fragen und eine gewisse Unbefriedigung. Ich fühle mich, als hätte sich eine weitreichende und tiefgründige Landschaft vor mir ausgebreitet – aber ich bin kurzsichtig. Als könnte ich das Ausmaß und das Potenzial erahnen, aber nicht sehen und in der Gänze verstehen.
Deswegen werde ich das Werk nicht wie gewohnt bewerten, sondern jedem Menschen, der das Buch lesen möchte, empfehlen. In der Hoffnung, dass andere die Landschaft in aller Schärfe sehen können.
Wertung: keine
- Autorin: Basma Abdel Aziz
- Titel: Das Tor
- Originaltitel: الطابور (aṭ-Ṭābūr – Die Warteschlange)
- Übersetzerin: Larissa Bender
- Verlag: Heyne Verlag
- Erschienen: 04/2020
- Einband: Klappenbroschur
- Seiten: 288
- ISBN:978-3-453-32046-8
- Sonstige Informationen:
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