Ein Roman wie eine Arschbombe – frech, spritzig, lebendig
„Ich liebe dich, sage ich.“
Erster Satz und alles klar: Lovestory. Okay. Und wo bitte schön geht’s zum Happy End? Oder doch nicht?
Ohne Anlauf zu nehmen springt Annika Büsing in die Geschichte und reißt mich mit. Ab ins kalte Wasser. Ungefiltert lässt sie Nene, ihre Ich-Erzählerin, berichten. Und Nene erzählt. Ein bisschen atemlos und nicht immer chronologisch, so eben wie man erzählt, wenn man los werden will, was einem auf dem Herzen liegt.
Und der jungen Frau liegt einiges auf dem Herzen. Man könnte sagen: tonnenschwer sind die Gewichte, die sie mit sich herumträgt. Ihre Kindheit, eine komplette Katastrophe: die Mutter stirbt als sie acht ist, der Vater ist Alkoholiker und prügelt. Mehrmals wird sie vom Jugendamt in Wohnheimen untergebracht und dann doch immer wieder zum Vater zurückgeschickt. Aber Nene ist eine Kämpferin. Sie trotzt den Umständen ihren Schulabschluss ab, zieht ihre Wunschausbildung zur Bademeisterin durch und beginnt ein eigenes Leben. Doch die erlittenen Traumata wird sie nicht los.
Und nun liebt sie Boris. Auch er ein Mensch mit belasteter Vergangenheit und noch schwierigerer Gegenwart. Denn Boris ist körperbehindert, arbeitslos und ohne Perspektive. Doch Nene, die Kämpferin, lässt nicht locker.
Büsing präsentiert uns eine Romanheldin, die von sich selbst denkt, dass sie in keinen Roman passen würde.
„… ein saufender, prügelnder Vater ist kein Klischee. Und doch: Es ist ein verschlissenes Bild, das sich hartnäckig über die Jahrhunderte gehalten hat. Darüber kann man heutzutage keine Romane mehr schreiben.“ (Seite 72)
Nene glaubt nicht daran, dass Schicksale wie das ihre Menschen aus sogenannten besseren Gesellschaftsschichten interessieren könnten. Sie fühlt sich allein und schlussfolgert, auch ihre Probleme allein lösen zu müssen.
Die Autorin schenkt ihrer Romanfigur eine eigene sehr authentische Stimme und sorgt so dafür, dass wir als Leser*innen ganz dicht an Nene herankommen.
Die Worte, die wir zu lesen bekommen, sind umgangssprachlich, sehr direkt und oft auch derb. Doch die Gedanken, die sie formen, sind sensibel und rücksichtsvoll. Nene mag ungebildet erscheinen, aber sie ist intelligent. Büsing zeigt: Man darf sich nicht täuschen lassen durch Sätze aus geglättendem Bildungsdeutsch. Herzensbildung ist allemal wichtiger.
Mit Nene erschafft Büsing eine Romanfigur, die mit ihrem ungebrochenen Lebensmut beeindruckt. Fast erscheint sie zu stark, zu ausdauernd, um wahr zu sein. Eine Protagonistin, der man von der ersten Zeile an das Happy-End wünscht, um das sie kämpft.
Annika Büsing hat sich einige richtig fette Brocken in ihr Debüt gepackt: Sozialdrama, Kindesmisshandlung, Traumabewältigung, Alkoholismus, Ausgrenzung durch Behinderung um nur einige zu nennen.
Auf nur 128 Seiten gelingt es ihr, das alles in einen lebensbejahenden Roman voller Herzenswärme zu verwandeln.
Chapeau!
- Autor: Annika Büsing
- Titel: Nordstadt
- Verlag: Steidel Verlag
- Erschienen: 28. Februar 2022
- Seiten: 128
- ISBN: 978-3969990643
Wertung: 13/15 dpt