Auf dem Dach eines Hauses steht eine junge Frau. Weder die Feuerwehr noch ihr nahestehende Personen schaffen es herauszufinden, was sie bewogen hat auf das Dach zu steigen. Manu heißt diese Frau, die nicht mit sich reden lässt und welche sich als „Störgärtnerin“ versteht. Eher wirft sie Ziegel vom Dach und reißt somit die Einwohnerinnen und Einwohner des fiktiven Ortes Thalbach aus ihrem Alltag.
Wird sie springen? Diese Frage drängt sich von Anfang an auf und auch die Reaktionen der Menschen des Ortes, die vor dem Haus stehen, fallen sehr unterschiedlich aus. Während einige mitfühlend versuchen zu ihr durchzudringen, reagieren andere überfordert oder gar aggressiv. So brüllt ein Jugendlicher aus der Menge, die sich schnell vor dem Haus versammelt, dass sie doch endlich springen soll. Somit stellt sich nicht nur die Frage, wie sich Manu entscheiden wird, sondern auch wieviel Empathie in der heutigen Gesellschaft für eine Situation aufgebracht werden kann, in der eine Menge sich vor einem Haus versammelt und eine Vielzahl an Handy-Kameras in die Höhe gehalten wird, um dieses Ereignis wiederholt erleb- und teilbar zu machen.
“ (…) Möglicherweise ist das Rufen und Filmen in solchen Situationen eine Art Vergewisserung, auf der »richtigen«, der »normalen« oder auch der unversehrten Seite zu sein, was dann vermutlich auch die Hemmschwelle senkt, entsprechende Videos und Fotos im Netz zu veröffentlichen und auf Klicks zu hoffen, die wiederum auf höchst fragwürdige Weise mit Status verknüpft sind – einer Form von Status, die es so vor zehn, fünfzehn Jahren noch nicht gab.“ Simone Lappert im Interview
Die Autorin beschreibt anhand von zehn Figuren, die mit der Frau auf dem Dach mehr oder weniger in Verbindung stehen, welche Auswirkungen Manus Verhalten auf sie und ihre Umgebung hat. So ergibt sich Seite für Seite ein Gesamtbild dieser Stadt und deren Reaktion auf das nicht Alltägliche. Einer dieser Figuren ist Felix, ein Polizist, der mit dem Einsatz zur Rettung der Frau auf dem Dach betraut ist und dadurch mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert wird. Auch auf die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten geht die Autorin ein, indem sie den Obdachlosen Henry über seine fehlgeleiteten Entscheidungen sinnieren lässt oder die angehende Bürgermeisterin Astrid beschreibt, welche sehr empfindlich auf die heikle Situation reagiert, denn schließlich befindet sie sich mitten im Wahlkampf.
Auffällig ist, dass Manu selbst kein eigenes Kapitel bekommt. Vielmehr dient sie mit ihrer Aktion als Ausgangspunkt, um das Innenleben und die persönlichen Befindlichkeiten der jeweiligen Charaktere aufzuzeigen. Dies geschieht bei manchen sehr detailliert, wie bei dem jungen Fahrradkurier Finn, der auch den Voyeurismus und die Sensationslust der Gaffenden an einer Stelle im Roman gezielt aufgreift und kritisiert:
»Die Verrückten sind immer die anderen, nicht wahr?«
Bereits am Anfang des Romans wird klar, dass es hier weniger um die bloße Entscheidung von Manu geht, sondern um den Umgang und die Reaktion der Gesellschaft auf eine extreme, wenn zu gleich öffentlich wie auch intime Situation, auf die sie sich ihre Figuren unterschiedlich einlassen.
Durch die differenzierten Sichtweisen der Charaktere ergibt sich beim Lesen Raum für Interpretation. Während Figuren, wie Finn, sehr konkrete Worte für das Ereignis finden und diesem sehr nahestehen, bleibt bei manch anderen die Frage offen, ob und inwiefern sie das Ereignis prägt. Denn da sind auch Menschen, wie die jugendliche Winnie, die viel zu sehr auf ihr eigenes Erleben im Zusammenhang mit ihrem Aussehen und den Herausforderungen der Pubertät beschäftigt ist, als dass es ihr möglich ist, sich mit den Befindlichkeiten der Person, die sich direkt vor ihr auf dem Dach befindet, auseinanderzusetzen.
Aufgrund der stimmigen Perspektivwechsel schafft die Autorin es die Spannung, trotz mancher Längen innerhalb der Kapitel, zu wahren, sodass die Zeit beim Lesen verfliegt. Dabei spürt man die Nähe zu manchen Figuren mehr als zu anderen, was sich anhand der Tiefe ihrer Beschreibung erklären lässt. Dieser Roman, der anfangs ganz gezielt eine einzelne Frage aufwirft, lässt am Ende eine Vielzahl solcher hinsichtlich des eigenen Verhaltens entstehen, weshalb sich eine Lektüre mehr als lohnt. Eine klare Empfehlung für jene, die sich nicht scheuen auch die eigenen alltäglichen Verhaltensmuster neu zu hinterfragen.
- Autor: Simone Lappert
- Titel: Der Sprung
- Verlag: Diogenes
- Erschienen: 28. August 2019
- Einband: Hardcover
- Seiten: 336
- ISBN: 978-3-257-07074-3
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