John Harvey – Nebel über dem Fluss (Buch)
Detailliert geschilderte Polizeiarbeit
Weihnachtsabend. Nancy Phelan möchte richtig feiern und hat sich entsprechend rausgeputzt. Doch am nächsten Morgen wird sie bereits von ihrer Mitbewohnerin Dana Matthieson vermisst. Natürlich kann sie sich einen Mann geangelt haben, doch warum hat sie sich nicht gemeldet. Einen Tag zuvor hatte Nancy auf ihrem Arbeitsplatz im Wohnungsamt einen heftigen Streit mit Gary James, der sie lautstark bedrohte, da er mit seiner Lebensgefährtin und zwei kleinen Kindern in einem viel zu kalten Haus lebt. Fast wäre es zu körperlicher Gewalt gekommen, aber der hinzugezogene Detective Inspector Charlie Resnick kann die Szene beruhigen. Gary, unter anderem wegen Gewaltdelikten polizeibekannt und aktuell auf Bewährung draußen, wird am Weihnachtstag nach seiner vorübergehenden Verhaftung, entlassen. Der junge, stets jähzornige und leicht explodierende Mann steht somit auf der Liste der Verdächtigen ganz oben.
Nancys Eltern schalten sich ebenfalls in die Suche nach der vermissten Tochter ein und besonders ihr unbeherrschter Vater macht den Ermittlern ordentlich Druck. Resnick und sein Team ermitteln eifrig, doch in dem Hotel, wo mehrere Weihnachtsfeiern stattfanden und indem Nancy zuletzt gesehen wurde, waren hunderte Menschen. Sie alle müssen befragt, ihre Aussagen stichprobenmäßig überprüft werden. Neben Gary und den Gästen der Feier gerät noch ein weiterer Kandidat in den Vordergrund: Robin Hidden. Der junge Mann war der aktuelle Freund von Nancy und erhielt kurz vor Nancys Verschwinden den Laufpass. Nachdem Tage später eine Lösegeldforderung eingeht, werden die Polizisten an den zwei Jahre alten Fall der Susan Rogel erinnert. Damals wurde das bereitgestellte Lösegeld nicht abgeholt, von Susan fehlt bis heute jede Spur.
Viele Personen wollen vorgestellt werden
John Harvey galt vor allem Ende des vorigen Jahrhunderts zu den besten Krimiautoren Großbritanniens, blieb in Deutschland aber eher ein Geheimtipp. Schade, denn der vielfach preisgekrönte Autor sollte jedem Krimifan bekannt sein. Insbesondere gilt dies für die Charlie-Resnick-Reihe aus der der vorliegende Fall stammt, welcher erstmals 1994 veröffentlicht wurde. Harvey setzt dabei nicht nur den Schwerpunkt auf seinen Protagonisten, sondern auch auf seine Nebenfiguren, die auffällig viel Platz erhalten. Aus immer wieder wechselnden Perspektiven werden mehrere Ermittler sowie Gary und seine Lebensgefährtin Michelle vorgestellt. Man erlebt hautnah die Ermittlungsarbeit der Polizei, die sich durch ein hohes Maß an Authenzität auszeichnet. Auch deren Auswirkungen auf das Privatleben der Ermittler vom CID Nottingham werden ausführlich geschildert. Gleiches gilt für die privaten Probleme zwischen Gary und Michelle, die immer mitunter in Gewalt ausarten. Dies führt zwangsläufig zu einigen Längen im Krimiplot, als Ausgleich gibt es aber höchst lebendige Figuren fernab jener allzu oft erlebten schablonenhaft-eindimensionalen Schwarz-Weiß-Zeichnungen.
Resnick ist ein Ermittler mit Ecken und Kanten, teils jähzornig und ein Sturkopf. Privat läuft bei ihm seit seiner Trennung von Frau Elaine nicht mehr viel. Allein seine Kater halten ihn auf Trab, dazu gibt es reichlich Musik, Essen und Alkohol. Bei seinen Kollegen sieht es ähnlich aus. Auch hier gibt es wiederholt Spannungen im privaten Umfeld. Dazu vermittelt „Nebel über dem Fluss“ typisch englisches Flair. Selten wurde so viel Tee, Bier und Whisky getrunken sowie Kekse und Stilton gegessen. Wer sich an den durchaus längeren Ausflügen ins Private nicht stört, findet hier glänzende Krimiunterhaltung. Überfälle auf Taxifahrer gilt es aufzuklären, es kommt zu sozialen Unruhen unter Jugendlichen und weiterhin fehlt jeder Spur von Nancy. Ein toller Roman von John Harvey, der mit dem „Diamond Dagger“ für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde.
Dass die Charlie-Resnick-Reihe schon etwas in die Jahre gekommen ist, merkt man dem Plot übrigens kaum an; vom fehlenden Einsatz moderner Computertechnik und ähnlichem abgesehen. Die Romane von John Harvey sind übrigens nach wie vor problemlos erhältlich. Ein (Wieder-)entdecken lohnt sich!
- Autor: John Harvey
- Titel: Nebel über dem Fluss
- Originaltitel: Cold Light (1994). Aus dem Englischen von Mechthild Sandberg-Ciletti
- Verlag: dtv
- Umfang: 367 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Oktober 2010
- ISBN: 978-3-423-40308-5
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Wertung: 12/15 dpt