Spitzbergen in eisiger Dunkelheit
Wer nach Spitzbergen zieht, der muss verrückt sein, sagt sich der pensionierte Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen in Bergen, Ex-Kommissar Trond Lie. Er muss es wissen, denn seit wenigen Tagen lebt er in Longyearbyen, einem Dorf mit rund 2.300 Einwohnern. Es ist Dezember, Polarwinter, acht Monate Dunkelheit rund um die Uhr am nördlichsten Ende der Welt. Von Bergen hatte er genug, der Hilferuf seiner Tochter Ingvild kam gerade recht. Bei drei Jobs kann sie sich nur eingeschränkt um ihren vierjährigen Sohn Bjarne kümmern; der verwitwete Großvater bietet nur zu gern seine Hilfe an. Doch dann geschieht das Unvorstellbare: Dort, wo allenfalls eine Kneipenschlägerei für kurze Unruhe sorgt wie die im Sommer die einfallenden Touristen, geschieht ein Mord.
Die Musherin Frida van Namen ist mit ihren Schlittenhunden auf einer Kurierfahrt unterwegs als sie ein Schneemobil entdeckt. Daneben liegt ein toter Mann, dessen blutiger Nacken verrät, dass er aus nächster Nähe erschossen wurde. Der Sysselmann, Gouverneur und Chef der Polizei auf Spitzbergen, ist eine Frau namens Mette Moller, die den routinierten Ex-Kommissar um Hilfe bittet. Aufgrund der Wetterlage kann der zuständige Ermittler aus Tromso zunächst nicht auf die Insel fliegen. So ermittelt Trond, dankbar für die Abwechslung seines monotonen Alltags, gemeinsam mit Frida und stößt dabei auf eine Gruppe seltsamer Geologen. Auch ein bekannter TV-Journalist sorgt für Aufsehen, denn warum arbeitet er plötzlich auf dem (journalistisch gesehen) langweiligsten Posten der Welt für eine Zeitung?
Der Kommissar aus Tromso scheint nach seinem Eintreffen wenig Interesse an den Ermittlungen zu haben, derweil geschieht ein weiterer Mord. Doch es gibt eine weitere tödliche Gefahr, die man im Dunkeln kaum ausmachen kann. Eisbären.
Die Landschaft prägt die spannende Handlung
Passend zur Jahreszeit sind drei lesenswerte Krimis nahezu zeitgleich im Oktober erschienen, die in der Polarlandschaft spielen. Neben Mardita Winter „Mordlichter“ (spielt am nordschwedischen Polarkreis) und dem ebenfalls auf Spitzbergen spielenden „Gejagt im Eis“ von Odd Harald Hauge, hier nun „78° Tödliche Breite“ von Hanne H. Kvandal, die eigentlich Hannelore Hippe heißt und Krimifans als Hannah O’Brien dank ihrer Grace-O’Malley-Reihe bekannt sein sollte.
Das Privatleben des sympathischen Trond findet seinen Platz, nimmt aber einen angenehm überschaubaren Platz ein. Stattdessen entwickelt sich ein zunächst ruhig erzählter Plot, der durch weitere Morde und eine unerwartete Wendung im Schlussdrittel deutlich an Fahrt aufnimmt, bevor es zu einem eher unübersichtlichen Finale kommt; was einmal mehr der Dunkelheit geschuldet ist.
Worum es letztlich geht, soll natürlich nicht verraten werden, nur so viel, es hat Bezüge zum Klimawandel und „internationaler Interessen“. Neben dem Krimiplot fließt die Geschichte von Spitzbergen beziehungsweise von Svalbard immer wieder in die Handlung ein. Man erfährt einiges über die Insel Spitzbergen und deren beeindruckende Landschaft und deren besondere geopolitische Lage. Auch die Gesetze sind interessant, denn der Svalbardvertrag genehmigt beispielsweise allen Einwohnern der 46 Nationen, die ihn unterzeichnet haben, dass diese sich dort ohne Visum niederlassen dürfen. So verwundert es nur kurz, dass die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe aus Thailand stammt. Hohe Löhne für einfache Jobs im Tourismusgewerbe erscheinen verlockend, um die Angehörigen zuhause unterstützen zu können. Da kann man monatelange Dunkelheit und Temperaturen unter zwanzig Grad womöglich als das kleinere Übel ansehen. Oder auch nicht.
Selbstredend ist festzuhalten, dass neben der beeindruckenden Natur der tötende Vierbeiner, das größte Landraubtier der Welt, einige Auftritte bekommt. Unterhaltsam, kurzweilig, informativ und spannend – so soll es sein.
- Autorin: Hanne H. Kvandal
- Titel: 78° Tödliche Breite
- Verlag: dtv
- Umfang: 319 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: Oktober 2021
- ISBN: 978-3-423-21973-0
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 12/15 dpt