Julia Veihelmann – Der dritte Versuch (Buch)

Julia Veihelmann – Der dritte Versuch (Buch)

Julia Veihelmann – Der dritte Versuch (Coverfoto © BROTHER VRLG)

„Der dritte Versuch“ ist ein Geheimtipp, der eine große Leserschaft verdient: Der Roman erschien 2020 als verlegtes Manuskript im BROTHER VRLG und tritt viel zu bescheiden auf, denn was sich hinter den unscheinbaren Buchdeckeln verbirgt, ist große Literatur!

Das Buch handelt von Vincent, der gegen seine inneren Dämonen kämpft. Seit Jahren schreibt er an seiner Doktorarbeit in Geschichte und kommt damit mehr schlecht als recht voran. Er stammt aus einer gutbürgerlichen, wohlhabenden Familie, deren Oberhaupt festen Prinzipien folgt:

Contenance ist kein Selbstzweck, sie ist die Voraussetzung für Würde. Persistenz in den alltäglichen Unternehmungen ist kein Selbstzweck, sie ist die Voraussetzung dafür, die Zeit zu überdauern.

Dies predigt Vincents Vater, den er “den Alten” nennt, Inhaber eines gutgehenden Uhrengeschäfts. Vincent selbst ist das schwarze Schaf der Familie, deren Erbteil ihm jedoch ein Leben ohne finanzielle Sorgen ermöglicht.

Der Roman erzählt von seiner Liebesbeziehung zu Marie, die ihm alles bedeutet. Im Gegensatz zu Vincent hat sie zwei Jobs, denen sie pflichtbewusst nachgeht. Seine Beziehung zu Marie schwebt durch Vincents Selbsthass permanent in Gefahr: Beleidigungen, wenn er getrunken hat und unbegründete Vorwürfe ihr gegenüber sind Dinge, die sich Marie gefallen lassen muss. Regelmäßig versucht er, sein Verhalten wieder auszubügeln:

Als er frei hatte, lud er sie zum Griechen ein. Er winkte den Rosenverkäufer an den Tisch, aus Albernheit, und kaufte ihm drei Rosen ab: Eine für die Vergangenheit, schön, dass wir uns getroffen haben. Eine für die Gegenwart, schön, dass wir hier sind. Eine für die Zukunft, wir werden unserer Wege gehen, ich habe Angst. […] Marie lachte nicht über seine Geste, dadurch wurde sie pathetisch.

Der dritte im Bunde ist der Weißrusse Innokentij, den Vincent zum Retter stilisiert, seitdem er ihn im Vollsuff in ein Taxi nach Hause steckte und Alkoholabstinenz verordnete. Danach hält Vincent ihn in seinem Leben fest. Die Geschichte spinnt sich um die Wohngemeinschaft der drei und ihr Leben miteinander, das geprägt ist von Szenen der völligen Harmonie, sich jedoch nach und nach in eine andere Richtung entwickelt …

Der Roman brilliert durch klare Sprache und kompromisslose Authentizität: Kneipenszenen im Alkoholrausch, Vincents verkatertes Erwachen auf dem Fußboden eines fremden Treppenhauses, seine selbstzerstörerischen Gedanken – selten liest man derart greifbar Erzähltes. So widersprüchlich Vincents Persönlichkeit ist, so widersprüchlich gestaltet sich auch seine Beziehung zur Leserin und zum Leser: Held oder Antiheld? Verwöhntes Söhnchen oder liebessüchtiger Selbstzerstörer, der es nicht besser weiß? Harmoniemensch, der am eigenen Anspruch scheitert oder Misanthrop mit Verfolgungswahn? Vincent ist alles und nichts – zumindest aber ein Protagonist, der beim Lesen in seinen Bann zieht, von der ersten bis zur letzten Seite.

Bei diesem Roman handelt es sich um Julia Veihelmanns (* 1984) dritte Buchveröffentlichung – also um weit mehr als einen “dritten Versuch“. Die Autorin studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und später Sinologie in Berlin, Bochum und Taipei. Sie publizierte weiterhin in renommierten Literaturzeitschriften wie Edit und die horen sowie online im poetenladen und war unter anderem Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Heute arbeitet Julia Veihelmann selbstständig als Autorin, Übersetzerin, Lektorin, Korrekturleserin und Texterin.
“Der dritte Versuch” erschien im BROTHER VRLG, der sich selbst nicht als Kleinstverlag sieht, sondern selbstfinanziert Manuskripte verlegt – „unabhängig von der Frage, woran Verlage aktuell grade interessiert sind und woran nicht“, so die Beschreibung des Publikationsprojekts. Das Ergebnis ist eine in dezentem Weiß gehaltene Broschur in leider sehr unhandlichem Format und erinnert eher an eine wissenschaftliche Veröffentlichung, als an einen lesenswerten Roman. Sieben Jahre Arbeit stecken in diesen Seiten und die sind spürbar: Das Buch ist rundum gelungen und schafft den Grat zwischen literarischem Anspruch und Lesevergnügen. Schade, dass man erst darauf aufmerksam gemacht werden muss. Absolut lesenswert!


Wertung: 14/15 dpt

Teile diesen Beitrag:
Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Mit dem Absenden deines Kommentars werden Benutzername, E-Mail-Adresse sowie zur Vermeidung von Missbrauch für 7 Tage die dazugehörige IP-Adresse, die deinem Internetanschluss aktuell zugewiesen ist, in unserer Datenbank gespeichert. E-Mail-Adresse und die IP-Adresse werden selbstverständlich nicht veröffentlicht oder an Dritte weitergegeben. Du hast die Option, Kommentare für diesen Beitrag per E-Mail zu abonnieren - in diesem Fall erhältst du eine E-Mail, in der du das Abonnement bestätigen kannst. Mehr Informationen finden sich in unserer Datenschutzerklärung.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Du möchtest nichts mehr verpassen?
Abonniere unseren Newsletter!

Total
0
Share