Deutscher Physiker liefert England wichtige Kriegsinformationen
Die Machtergreifung Hitlers und der weitere Verlauf bis Kriegsende sind bekannt, werden hier aber noch einmal mit Schwerpunkt auf England dargestellt. Wer den 2017 erschienen Film „Die dunkelste Stunde“ gesehen hat, findet sich schnell in die Handlung ein. Englands Premierminister Chamberlain will Frieden um jeden Preis und feiert 1938 mit dem sogenannten Münchner Abkommen einen vermeintlich großen Erfolg als Friedensstifter, dabei wird tatsächlich das Sudetenland an das Deutsche Reich abgetreten. Es ist ein wichtiges Ereignis der Appeasement-Politik, denn der bis dahin als Kriegstreiber verunglimpfte Winston Churchill erhält zunehmend Rückenwind. Spätestens mit dem Kriegsbeginn gegen Polen am 1. September 1939 ist klar, dass Chamberlains Politik grandios gescheitert ist.
An jenem Tag beginnt für den erst 28-jährigen Physiker Reginald Victor Jones ein neuer Lebensabschnitt, denn er erhält die neu geschaffene Stelle als wissenschaftlicher Experte beim Auslandsgeheimdienst MI6. Seine erste Aufgabe besteht aus der Auswertung einer Rede Hitlers, wonach Deutschland über eine unschlagbare Geheimwaffe verfügt. Jones beauftragt eine weitere Übersetzung, die den Wert der Nachricht auf Null reduziert. Dann erhält er einen Auftrag, der das Kriegsgeschehen und sein eigenes Berufsleben massiv verändern wird. Aus Oslo hat der MI6 zwei Schreiben erhalten, die in die Geschichte als „Oslo-Report“ eingehen werden. Diese enthalten auf sieben Schreibmaschinenseiten wichtige Informationen über Ziele der deutschen Rüstungsforschung, aktuelle Waffensysteme und über Standorte der Forschungseinrichtungen. So erfährt der britische Geheimdienst erstmals von der Existenz der „Erprobungsstelle“ Peenemünde auf Usedom, die im weiteren Kriegsverlauf zur größten europäischen Forschungseinrichtung in Europa mutiert und erst spät angegriffen wird.
Die Schlacht der Strahlen
Bereits die ersten beiden Punkte des Reports wecken in England große Zweifel, denn es wird unter anderem von der Produktion von Flugzeugen des Typs JU 88 berichtet. 5.ooo pro Monat, was völlig unrealistisch ist. Und selbst wenn es stimmen würde, woher sollten monatlich 2o.ooo Besatzungsmitglieder kommen; pro Maschine vier Mann? Handelt es sich womöglich um ein deutsches Ablenkungsmanöver? Im weiteren Kriegsgeschehen erkennt Jones die hohe Bedeutung des Papiers, insbesondere bei der Entwicklung der Radartechnologie. Und so wird trotz der verheerenden deutschen Luftangriffe auf England, der Oslo-Report ein wichtiges Werkzeug für den Sieg der britischen Luftflotte. Allerdings auch dank eines Fehlers der deutschen Streitkräfte. Statt die am Boden liegende britische Luftwaffe endgültig zu vernichten, befiehlt Hitler den Angriff auf die Städte zwecks Zermürbung der Bevölkerung. Das Gegenteil geschieht und die Luftwaffe erhält die nötige Zeit, um ihre Infrastruktur wiederaufbauen und die Flugzeugproduktion hochfahren zu können.
David Rennert, Wissenschaftsredakteur der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“, legt ein packendes und faktenreiches Buch vor, dass viele Elemente vereint. Zunächst werden die Ereignisse bis zum Kriegsbeginn und dabei der Streit zwischen Chamberlain und Churchill in den Fokus gerückt. Dann folgen die Inhalte der beiden am 1. und 2. November 1939 versandten Schreiben mit kurzer Bewertung der darin enthaltenen elf Punkte sowie deren spätere Auswirkungen auf den Kriegsverlauf. Der technische Wettlauf rund um Themen wie Schall, Radartechnik und Raketensysteme – hier wird technischer und physikalischer Verstand vorausgesetzt – bilden ebenfalls einen spannenden Hintergrund, bevor mit Beginn der zweiten Buchhälfte, der Verfasser des „Oslo-Reportes“ in den Mittelpunkt rückt.
Beeindruckende Biografie über Hans Ferdinand Mayer
Hans Ferdinand Mayer (1895-1980) hatte ein bewegtes und hoch interessantes Leben. Zunächst wächst er unter bescheidenen Verhältnissen auf, folgt im allgemeinen Jubel an die Kriegsfront und wird an seinem 19. Geburtstag schwer am Bein verletzt. Es folgt ein Studium der Physik in Heidelberg, wo der Nobelpreisträger Philipp Lenard sein Mentor wird. Allerdings entpuppt sich der spätere Widersacher von Albert Einstein als Nationalsozialist und Antisemit. Man trennt sich und Mayer macht Karriere bei der Firma Siemens & Halske, deren Auftragslage dank zahlreicher Rüstungsaufträge kaum besser sein könnte. Mayer ist unpolitisch, doch der zunehmende Antisemitismus bestärkt seine Abneigung gegen das Regime.
Als am 14. Oktober 1939 das Schlachtschiff „Royal Oak“ versenkt wird und rund dreihundert britische Seeleute den Tod finden, ist er zum Handeln bereit. Bei einer Geschäftsreise nach Oslo schreibt er die besagten Briefe. Später wird er denunziert, landet in verschiedenen Konzentrationslagern und arbeitet nach Kriegsende kurze Zeit für die Russen, dann für die Amerikaner und später wieder bei Siemens, wo er in den Vorstand aufrücken wird.
„Der Oslo-Report“ beschreibt intensiv die Arbeit von Jones und Mayer, die technische Aufrüstung, den wissenschaftlichen Wettlauf, die politischen Entwicklungen und nicht zuletzt den Lebenslauf eines Mannes mit Gewissen, der dafür einen hohen Preis bezahlen musste. Und der mit ansehen musste, wie die in Kriegsverbrechen involvierten Wissenschaftler, allen voran Wernher von Braun, nach dem Krieg in Amerika und Russland einfach weitermachen konnten. Ihr technisches Knowhow war wichtiger als Moral und durfte nicht dem Feind (wahlweise Amerika oder Russland) in die Hände fallen.
- Autor: David Rennert
- Titel: Der Oslo-Report
- Verlag: Residenz
- Umfang: 208 Seiten
- Einband: Hardcover
- Erschienen: September 2021
- ISBN: 978-3-7017-3517-4
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 13/15 dpt