Martin Michaud – Aus dem Schatten des Vergessens
„I didn’t shoot anybody, no Sir!“
Bevor der Obdachlose André Lortie von einem Hochhaus in den sicheren Tod springt, hinterlässt er auf einer Balustrade zwei Brieftaschen. Diese gehören der bekannten Psychologin Judith Harper, die kurz darauf tot aufgefunden wird, und dem Anwalt Nathan Lawson, der zunächst verschwindet bevor auch dessen Leiche entdeckt wird. Harper wie Lawson wurden brutal ermordet, doch wo ist die Verbindung zu Lortie? Sergeant-Détective Victor Lessard stürzt sich mit seiner Kollegin Jacinthe Taillon in die Ermittlungen. Während es zunächst so aussieht, dass Lortie als Mörder in Frage kommt, müssen beide schnell umdenken. Denn den komplizierten Mordmechanismus kann sich der Obdachlose kaum ausgedacht haben, zudem wurde Lawson erst nach Lorties Suizid getötet.
Lortie war längere Zeit in einer Psychiatrischen Klinik in Behandlung, deren Arzt sich verdächtig macht; ebenso wie der Ehemann von Harper. Die Zahl der Verdächtigen steigt so kontinuierlich wie die Anzahl weiterer Todesopfer. Ein Serienmörder scheint sein Unwesen zu treiben, gleichwohl fehlt zunächst jeglicher Zusammenhang zwischen den Opfern. Je weiter die Ermittlungen voranschreiten, desto verwirrter wird es. Plötzlich führt eine heiße Spur in das Jahr 1964, zu einem geheimen Versuchsprogramm mit Gehirnwäsche und dem Attentat auf John F. Kennedy.
Actionreicher Pageturner aus Montreal
Laut Buchaufkleber die „Thriller-Sensation aus Kanada“, wobei der Hinweis erlaubt sei, dass die „Sensation“ im Original bereits 2012 erschien. Eine verspätete Entdeckung somit, gleichwohl für Fans des actiongeladenen Thrillergenres eine Empfehlung. Dabei ist „Aus dem Schatten des Vergessens“ bereits der dritte Teil der Victor-Lessard-Serie, die inzwischen fünf Bände umfasst. Der vierte Teil („Durch die Tore des Todes“) ist soeben erschienen und Band fünf („In den Fluten der Dunkelheit“) folgt im September dieses Jahres.
„Aus dem Schatten des Vergessens“ bietet alles, was der Fan temporeicher Pageturner liebt. Mehrere Morde, viel Gewalt, eine Waffe aus dem Mittelalter, Verfolgungsjagden, Ermittler mit reichlich familiären Problemen und Ausflüge in die Vergangenheit. Plötzlich ist sogar vom CIA die Rede und unter dem Attentat auf JFK macht es Autor Martin Michaud hier erst gar nicht. Es folgen Gehirnwäschen, Komplotte und – Hurra – eine neue Verschwörungstheorie. Ob das letzte Geheimnis um die Ermordung des US-Präsidenten doch noch geklärt wird? Überraschend fehlen hingegen die oft üblichen Alkoholexzesse: Lessard ist trockener Alkoholiker. Also fast das volle Programm, hingestreckt auf über sechshundert Seiten, die im Showdown bei der Aufklärung der Identität des Mörders mit einer schönen Pointe enden.
Lessard ist ein von der eigenen, familiären Vergangenheit Getriebener, starker Raucher, leicht aufbrausend und somit nicht immer der Chef, den sich Jacinthe wünscht. Gleichwohl ist seine übergewichtige und fresssüchtige Partnerin, die teilweise eher wie eine Karikatur wirkt, häufig die Ursache für Lessards Ausraster. Die Polizeiarbeit wird – ebenso wie die Stadt Montreal – ausführlich dargestellt, wobei auch das Privatleben Lessards nicht zu kurz kommt. Sohn Martin scheint auf die schiefe Bahn geraten zu sein und die Beziehung zu seiner neuen, zwölf Jahre jüngeren Freundin Nadja steht vor einer harten Prüfung.
Kurzum: Wer harte, actionreiche Serienmörderthriller mit Verschwörungsbeiwerk mag, findet hier stundenlange, gute, wenngleich (in diesem Genre nicht ungewöhnlich) arg konstruierte Unterhaltung.
- Autor: Martin Michaud
- Titel: Aus dem Schatten des Vergessens
- Originaltitel: Je me souviens (2012). Aus dem kanadischen Französisch von Anabelle Assaf und Reiner Pfleiderer
- Verlag: Hoffmann und Campe
- Umfang: 631 Seiten
- Einband: Taschenbuch
- Erschienen: November 2020
- ISBN: 978-3-455-01007-7
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 11/15 dpt