Ian McGuire – Der Abstinent (Buch)


Ian McGuire – Der Abstinent

Kein Ausweg aus der Gewaltspirale?

Der Abstinent
© dtv

1867. Seit rund einem dreiviertel Jahr arbeitet Constable James O’Connor für die Polizei in Manchester. Zuvor lebte er mit seiner Frau Catherine in Dublin, doch nach deren schmerzhaften Tod, flüchtete er in den Alkohol und wurde vor die Wahl gestellt: Rauswurf oder Versetzung. In Manchester soll er die „Fenians“, irische Unabhängigkeitskämpfer, beobachten, während er gleichzeitig zwischen allen Stühlen sitzt. Für die irischen Landsleute gilt er als Verräter, für seine Arbeitskollegen ist und bleibt er ein Ire und damit ein Außenseiter. Nachdem eine geplante Gefangenenbefreiung misslingt und dabei ein Polizist zu Tode kommt, will der Polizeichef durchgreifen und Härte demonstrieren. Drei der Täter werden öffentlich erhängt. Eine unnötige Provokation, wie O’Connor meint, denn man habe letztlich drei Märtyrer geschaffen. Eine Woche später findet ein Trauerzug der Fenians statt; mehr als dreitausend Iren nehmen daran teil.

„Märtyrer? Das sind doch keine Märtyrer! Gewöhnliche Verbrecher sind das. Kaltblütige Polizistenmörder.“ „Ich persönlich sehe das natürlich auch so, Sir, aber die herrschende Meinung unter den Iren lautet anders.“ „Dann ist die herrschende Meinung eben Unsinn.“

Einer der wenigen Informanten O’Connors, Tommy Flanagan, berichtet, dass er von einer großen Aktion gehört habe, zu der man sogar Unterstützung aus Amerika erhalten soll. Wenig später wird O’Connor von seinem 19-jährigen Neffen Michael Sullivan aufgesucht, der bislang in Amerika lebte. Auf der Überfahrt habe er auf dem Schiff einen Mann namens Daniel Byrne kennengelernt, der auf ihn den Eindruck eines Nordstaatenkriegers gemacht habe. Kurz darauf wird O’Connor abends niedergeschlagen und beraubt, am nächsten Tag die Leichen des brutal erschossenen Flanagan sowie eines weiteren Spitzels gefunden. Nachfragen ergeben, dass Byrne der Deckname für den Kriegsveteran Stephen Doyle, ein amerikanischer Ire, ist, der für Unruhe sorgen und die Menschen zu einem Aufstand anstacheln soll. Da nur Michael Sullivan dessen Aussehen kennt, wird er in die Freiheitsbewegung eingeschleust. Die Gewaltspirale beginnt sich immer schneller zu drehen und bringt bald alle Beteiligten in höchste Gefahr.

Packende Einblicke in den englisch-irischen Konflikt im Stil eines Noir

Die Ausgangslage von James O’Connor erinnert an Sean Duffy, den Protagonisten aus der Feder von Adrian McKinty, der als „katholischer Bulle“ in den 1980er Jahren in Belfast für die Polizei arbeitet. Für seine protestantischen Kollegen ein ewiger Außenseiter, für die IRA ein höchst legitimes Ziel für Anschläge. Gut hundert Jahre zuvor und damit rund zwanzig Jahre nach der Großen Hungersnot in den Jahren 1845 bis 1849, die viele Iren veranlasste nach Amerika auszuwandern, spielt „Der Abstinent“ von Ian McGuire, der es mit seinem letzten Buch „Nordwasser“ auf die Nominierungsliste für den renommierten Man Booker Prize schaffte.

„Glauben Sie wirklich, Miss Flanagan – oder überhaupt irgendjemand – will jetzt noch mit der Polizei reden?“ „Nur so bekommen sie Gerechtigkeit.“ „Gerechtigkeit? Wie vergangene Woche, meinen Sie, als die drei Männer aufgehängt wurden?“

Der Roman, literarisch ansprechend und pointiert geschrieben, beginnt im November des Jahres 1867 mit der eingangs erwähnten Hinrichtung, die es tatsächlich gegeben hat. In der Folge liefern sich der trockene „Abstinent“ James O’Connor und der vom Krieg besessene Stephen Doyle ein beherztes Duell, welches Doyle zunächst damit beginnt, sich auf die Suche nach Verrätern in den eigenen Reihen zu machen. Diese gilt es auszuschalten und damit die Arbeit der Polizei zu erschweren, die nur dank O’Connors wenigen Zuträgern überhaupt an Informationen kommt. Die Fenian Brotherhood ist eine ebenso verschworene wie verschwiegene Gruppe, deren Männer allerdings vorwiegend Maulhelden sind, die bei ihren Treffen saufen, irische Lieder singen und vom großen Freiheitskampf fantasieren. Warum da nicht gleich die Queen ermorden? 

„Hat sich für besonders schlau gehalten. War er aber nicht. Jetzt liegt noch ein Bulle mehr in der Leichenhalle, und wir dürfen’s ausbaden. Irgendwer kommt dafür an den Galgen, das versprech ich dir, und solang’s ein Ire ist, wird niemand Fragen stellen.“

„Der Abstinent“ ist im Stil eines Noir geschrieben, in dem die Gewalteruptionen selten direkt dargestellt, sondern meist erst im Nachhinein erwähnt werden. So erfährt der Leser beispielsweise, dass Flanagan mit einem Kopfschuss aus einer Schrotflinte ermordet wurde, was die Gedanken beim Lesen hinsichtlich der Überreste beflügeln dürfte.

Gewaltopfer vom Anfang bis zum bitteren Ende

James O’Connor und Stephen Doyle stehen zwar auf verschiedenen Seiten, gleichwohl verbindet sie das zentrale Thema des Romans. Beide wurden von klein auf mit Gewalt konfrontiert, sogar selber deren Opfer. Dass es kaum möglich scheint, dieser zu entkommen, zeigt sich im Fortgang der Handlung und findet ihren Höhepunkt im Showdown zwischen den beiden Protagonisten. Die Feindschaft zwischen Engländern und Iren, bestens zu beobachten am Verhältnis O’Connors zu seinen Vorgesetzten, wird ebenso wie die Stadt Manchester, die den illustren Hintergrund des Hauptteils der Handlung bildet, gut dargestellt. Überhaupt kann man sich ansprechend in die damalige Zeit hineinversetzen, was das Lesevergnügen zusätzlich intensiviert. „Der Abstinent“ ist nicht nur eine Empfehlung für Interessenten an der irisch-englischen Geschichte, sondern bietet auch für Krimifans düster-spannende Unterhaltung. Gewalt, Verrat, Betrug und die Hoffnungslosigkeit, dieser Situation kaum entkommen zu können, sorgen für literarischen Nervenkitzel.

  • Autor: Ian McGuire
  • Titel: Der Abstinent
  • Originaltitel: The Abstainer. Aus dem Englischen von Jan Schönherr
  • Verlag: dtv
  • Umfang: 336 Seiten
  • Einband: Hardcover
  • Erschienen: April 2021
  • ISBN: 978-3-423-28272-7
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite


Wertung: 13/15 dpt


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