2020 war literarisch gesehen ein gutes Jahr.
Nicht unbedingt quantitativ, ich habe eher weniger gelesen als in anderen Jahren. Dafür qualitativ, was durchaus miteinander zusammenhängen mag.
Wer weitere Highlights meines Lesejahrs aus dem Bereich der Phantastik miterleben möchte, sei auf meinen kleinen Jahresrückblick auf phantastisch-lesen verwiesen. Für Booknerds möchte ich lieber Lesehighlights vorstellen, die dort nicht berücksichtigt wurden. Bunt gemischt ist diese Auswahl: ein autobiographisches Sachbuch, eine fiktionale Autobiographie, ein Science-Fiction Klassiker und ein moderner Fantasy-Roman.
Alice Hasters – Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten
2020 war sicherlich ein Jahr, in dem das Thema Rassismus mehr als in anderen Jahren im Fokus der Öffentlichkeit stand. Nach der Ermordung des Amerikaners George Floyd gingen weltweit Menschen auf die Straße, um auf Rassismus aufmerksam zu machen. Als Betroffene, oder als Weiße, um dafür einzustehen, dass sie eine Welt, die ihnen aufgrund ihrer Hautfarbe Privilegien einräumt, nicht gutheißen. Doch inwieweit können Weiße überhaupt nachvollziehen, wie viel und welche Art von Rassismus schwarze Menschen auch in Deutschland erleiden müssen? Und wie struktureller Rassismus auch in Deutschland historisch gewachsen ist?
Darüber schreibt die schwarze Journalistin Alice Hasters in ihrem Buch „Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“, das zum Bestseller wurde. Allerdings nicht in den USA, wie ein zweifelhafter Kabarettist unlängst in seiner TV-Show behauptete. Hasters verdeutlicht, welche vermeintlich harmlosen ‚nicht böse gemeinten“ Handlungen rassistisch sind und was Rassismus emotional mit den Betroffenen macht. „Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ ist ein erhellendes Buch für alle, die dazu beitragen wollen, dass unsere Gesellschaft Rassismus überwindet.
Saša Stanišić – Herkunft
Das Buch lernte ich bei Vorleserunden im „Bücherplausch“ in meinem Vorort kennen. Motiviert das Buch zu lesen hat mich vor allem die prägnante Schreibe des Autors, sehr humorvoll, äußerst konkret und verspielt zugleich. Und die Ankündigung im Video zum Buch, dass es um eine Drachenjagd geht.
Der Inhalt versetzte mich zurück in die 90er Jahre, als ich auf meiner Arbeitsstelle mit zwei Kollegen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu tun hatte, einem aus Kroatien und einem aus Bosnien. Natürlich war der gerade andauernde Bürgerkrieg dort jeden Tag Thema. Das Buch „Herkunft“ von Saša Stanišić bietet also nicht nur einen lesenswerten Schreibstil, sondern eine Menge Hintergrundinformationen aus der Geschichte des Balkanstaates, erläutert aus der persönlichen Sicht des Autors. Es erzählt außerdem von Diskriminierung, Kriegsverbrechen, Flucht, Migration und Trauer um eine zerfallende, sowie dem Entdecken einer neuen Heimat. Es geht darum, das Menschlichkeit Grenzen überwindet, auch die der Realität.
Ursula K. Le Guin – Die linke Hand der Dunkelheit
Für das PHANTAST-Magazin (inzwischen auch für phantastisch-lesen) schrieb ich einen Artikel zu „Die linke Hand der Dunkelheit“, einem Buch, das ich schon lange einmal lesen wollte. Ich bin bekennender Fan von Ursula K. Le Guin, die heute vor drei Jahren verstarb (22. Januar 2018) und hatte bereits den Roman „Freie Geister“. aus dem „Hainish“ Zyklus gelesen.
„Die linke Hand der Dunkelheit“ gilt als einer der bedeutendsten Romane über Geschlechterrollen. Ein Thema, das mich ebenfalls im Jahr 2020 beschäftigt hat, da ich gern mehr über Gendersensibilität, nicht nur in der Sprache, lernen möchte. Nach einem etwas holprigen Einstieg verstand ich, warum dieser Roman auch als feministischer Roman bezeichnet wird. Die Geschichte spielt auf einem Planeten, auf dem die Personen keinem Geschlecht, bzw. während der Fortpflanzung wechselnden Geschlechtern angehören. Welchen Einfluss dieser Umstand auf eine Gesellschaft hat, arbeitet „Die linke Hand der Dunkelheit“ eindrucksvoll heraus. Und unterhält zudem mit der spannenden und anrührenden Geschichte einer ganz besonderen Freundschaft.
Thilo Corzilius – Diebe der Nacht
Über „Diebe der Nacht“ schrieb ich für die Oktober-Ausgabe der Tolkien-Times, herausgegeben von der Hobbit-Presse. Thilo Corzilius schrieb diesen Abenteuer-Fantasy Roman aus einer Leidenschaft für Schurken heraus und das merkt man dem Roman auf jeder Seite an. Selten sind mir so sympathische und charmante Figuren begegnet, wie die Diebesbande „Herbstgänger“. Sie ziehen mit Cleverness und Spaß aberwitzige, eigentlich unmögliche Coups durch. Ebenso faszinierend ist der der Lagunenstadt Venedig nachempfundene Schauplatz Mosmerano. Dazu gesellen sich eine spezielle Art der Magie und Steampunk-Elemente. Über meine Vorliebe zu Steampunk schrieb ich schon in meinem allerersten Jahresrückblick für Booknerds 2013 und daran hat sich nichts geändert. Die klassische Heist-Story in „Diebe der Nacht“ erinnert nicht von ungefähr an Filme wie „Oceans 12“. Der Autor bemerkt im Nachwort, dass sein Held unter anderem Danny Ocean nachempfunden ist. Ich persönlich fand, dass Glin jedoch deutlich mehr Charisma versprüht, als der von George Clooney gespielte Draufgänger. Dazu unterhält der Roman mit genialen Wendungen, die alles Vorherige auf den Kopf stellen und immer wieder überraschen. Ein klug erdachtes und effektvoll umgesetztes phantastisches Schurkenstück.
Das Jahr 2020 wird uns allen als das Jahr der Corona-Pandemie in Erinnerung bleiben. Ich darf mich zu den Glücklichen zählen, die weder existenzielle noch gesundheitliche Probleme zu beklagen hatten. Gefehlt haben mir natürlich die Buchmessen und andere Literatur-Events, wie das PAN Branchentreffen. Ich hoffe, das Jahr 2021 wird uns wenigstens die Frankfurter Buchmesse gönnen. An guten Büchern hat es tatsächlich nicht gemangelt, da ich immer mehr innovative Literatur bei kleineren Verlagen wie der Edition Roter Drache oder dem Polar Verlag finde. Ich hoffe, dass große und kleine Literaturbetriebe finanziell überleben und weiterhin bunte, vielfältige und mutige Bücher und Geschichten veröffentlichen.
Eva Bergschneider