Stellt man heute Playlisten mit “old school” Alben oder Musikstücken zusammen, welche die Geburtsmomente von Techno und House festhalten, steht ohne Zweifel eine sehr ungewöhnliche LP an der Spitze der Aufstellung: “E2-E4” von Manuel Göttsching. Diese Platte erschien 1984, doch das Material darauf wurde bereits 1981 aufgenommen und verstaubte erstmal drei Jahre in einer Schublade.
Manuel Göttsching ist seit 50 Jahren der Gitarrist der berühmten Krautrock-Gruppe Ash Ra Tempel. Und ich möchte an dieser Stelle hervorheben, dass ich nie ein allzu großer Freund dieses Begriffs “Krautrock” war. Ich liebe die Musik, die sich dahinter verbirgt, doch das Wort selbst erscheint mir herabsetzend und sichtlich abgeschmackt. Es hat sich nur deshalb durchgesetzt, weil seinerzeit die Vertreter progressiver deutscher Musik so viel Unrechtbewußtsein und historische Verantwortung für die Verbrechen ihrer Vätergeneration besaßen, um kollektiv diesen Begriff hinzunehmen und nicht zu hinterfragen. Wenn die Briten und Amerikaner ihre Musik so nennen wollten, sollte es so sein.
Doch sieht man sich die Arbeiten von Ash Ra Tempel an, wird schnell deutlich, dass man mit dem klassischen Begriff Psychedelic Rock, oder lässig Psyche deutlich weiter kommt. Experimentelle Musik wäre sicherlich auch weiteres Attribut, das hier durchaus zutreffend ist.
Ende der 70er Jahre beschäftigte sich Manuel Göttsching zunehmend mit den Möglichkeiten einer überwiegend elektronischen Aufführungspraxis, die es ihm ermöglichen konnte, ganz allein aufzutreten, ohne von der Präsenz einer Band abhängig zu sein. Dies waren jene wichtigen Geburtsjahre der Synthesizermusik.
“E2-E4” entstand am 12. Dezember 1981. Die Aufnahme fand in nur einer Session im Studio Roma in Berlin statt. Das gesamte Stück besteht aus einem präparierten Synthesizer-Muster aus zwei Akkorden, die in einem Arpeggio aufgelöst werden und das durch einen komplexen Aufbau aus Effektgeräten geloopt wird. Die zuerst unscheinbaren, langsam voranschreitenden Veränderungen im Klangbilde werden durch den improvisierten Einsatz der Effekte und Synthesizer-Module herbeigeführt.
So würde heute niemand arbeiten müssen, denn alle Modifikation innerhalb eines so langen Stücks wären in einem Computer-Sequenzer vorprogrammiert und für die eigentliche “Aufnahme” würde man einfach nur eine fertige Datei exportieren und dabei vermutlich einen Sandwich essen. Doch dies war noch das analoge Zeitalter und der Prozess der Klangmanipulation und Modulation des elektronischen Motiv glich einer konzentrierten Performance an unzähligen Effektgeräten und Reglern. Alles geschah hier, während man es tat. Es war ein unmittelbarer Prozess, dessen Gefahr darin bestand, dass nur ein einziger Fehler alles unterbrechen konnte, was dann zur Folge hätte, dass der Künstler mit der Aufnahme neu beginnen musste.
Doch “E2-E4” erwies sich als ein gut vorbereitetes Experiment und so gelang die Aufnahme beim ersten Mal. Dem Resultat wurden keine weiteren Overdubs hinzugefügt, es fanden auch keine nachträgliche Reparaturen einzelne Stellen statt. Es ist, was es ist. Die Aufnahme klingt so, wie sie das Studio verlassen hatte. Ein hypnotischer, treibender Sound. Eine Stimme aus der Zukunft. Und sogar dann, als sich bei der dreißigsten Minute aus all dem elektronischen Webmuster plötzlich Manuel Göttschings Solo-Gitarre herausschält, fühlt man sogleich das zukunftsweisende Echo der funkigen Deep-House- und Ibiza-Musik der späten 90er und frühen Nuller-Jahre. Es gibt kaum eine andere Platte jener Ära, die so weit in die Zukunft hinausblickt.
Im Nachhinein erscheint es ein wenig schockierend, dass dieser epochale Wurf erstmal in der Schublade gelandet war. Manuel Göttsching hatte kurz davor seinen Vertrag mit Virgin nicht verlängert und so gab es für diese Musik kein Label. Ohnehin schien Göttsching unsicher zu sein, ob denn diese Musik überhaupt als Album veröffentlich werden sollte, angesichts der Länge der Aufnahme, die verlangte, das Stück in zwei Hälften zu zerbrechen, um es so auf Seite A und Seite B der Langspielplatte pressen zu können.
Erst 1984 kam die Aufnahme zwischen Klaus Schulze und Manuel Göttsching zur Sprache und erschien dann im selben Jahr als Vinyl-LP in einer Auflage von 1000 Stück auf Schulzes eigenem Label INTEAM. Für diese Erstauflage werden heute auf dem Vinyl-Markt im Schnitt 200 bis 300 $ verlangt und bezahlt.
Doch zum Glück leben wir nun in einer Ära, in der Vinyl sein heimliches Comeback feiert. Und deshalb brachte in 2016 INTEAM eine 500-Stück-Neuauflage des Albums heraus. Diesmal auf einer 180gramm Vinyl-Scheibe. Auch andere Version der Platte sind im Umlauf.
Um die Veröffentlichung ranken sich allerlei Geschichten, manche erzählt von Göttsching selbst. So soll er das Tonband Richard Branson vorgespielt haben, der dabei einen Säugling im Arm hielt und nach einer Weile konstatierte, die Musik sei großartig, da das Baby so effektiv eingeschlafen sei. Der Künstler fand es vermutlich nicht ganz so witzig und ging auf Bransons Vorschlag, das Album bei Virgin herauszubringen nicht ein.
Berühmt wurde der Verriss durch das berliner Magazin Zitty, das damals schrieb, Göttsching wäre mit dieser langweiligen Musik in einer Sackgasse und wenn er hören möchte, wohin sich elektronische Musik entwickle, sollte er mal Bands wie Human League oder Depeche Mode hören.
Später entschuldigte sich das Heft bei ihm öffentlich und erkannte die eigene Fehleinschätzung an. Denn bald schon sollte klar werden, dass Manuel Göttsching mit diesem Album nicht die nächste Welle der elektronischen Musik voraussah, sondern die übernächste.
“E2-E4” gilt zurecht als einer der visionärsten Würfe der elektronischen Revolution. Um das Jahr 1980 gab es viele Projekte, die tief in die Welt der Synthesizer abgetaucht waren – von Yellow Magic Orchestra, über Jean-Michel Jarre, von Brian Eno über Kraftwerk. Doch vermutlich kein Album hat die Musik der Zukunft so präzise skizziert, wie es Manuel Göttsching getan und hierbei die Atmosphäre des Techno-Clubsounds vorweggenommen hat.
Diese Scheibe könnte man jederzeit auflegen und hierbei behaupten, es sei eine Detroit-Techno-Platte von 1995 oder eine minimalistisch Dubstep-Aufnahme von 2015. Es drängt sich geradezu der Verdacht auf, dass Manuel Göttsching ein Zeitreisender war, der die Zukunft sah und hörte. Den Tanz, der niemals zu Ende ist. Der ewige kosmische Groove.
Manuell Göttsching: “E2-E4” (1981/1984, Inteam)
„futuristic spaceship command room“ by Luca Oleastri @ fotolia