Am 9. Dezember 2020 starb Harold Budd, ein Pionier des Ambientgenres und ein Meister der atmosphärischen Klangbilder. 84 Jahre alt, unterlag er einer Covid-19-Infektion. Ich hatte stets angenommen, er sei jünger, denn seine bekanntesten Werke erschienen in den 80ern und 90ern, häufig in Zusammenarbeit mit Künstlern, die meiner Generation näher standen. Brian Eno hatte ihn mal als “den großen abstrakten Maler, gefangen im Körper eines Musikers” beschrieben. Harold Budd mochte in den 50ern und 60ern ein Ziehkind der kalifornischen Avantgarde-Szene sein, seine größten Erfolge feierte er erst als Vierzigjähriger, nachdem er die musikalische Stille für sich entdeckt hatte. Nun, keine vollkommene Stille, doch verglichen mit der Lautstärke der Musik jener Tage – Punk, Haarmetal und Disco – eine sichtlich unscheinbare Angelegenheit.
1978 hatte Eno begonnen eine Reihe aus vier Alben zu produzieren, die das Fundament einer gänzlich neuen Musikrichtung verkörpern sollten. Die Rede ist von Ambient. Und man kann heute viel über die Quellen, Inspirationen und Vorläufer dieser musikalischen Bewegung sprechen (oft unter dem schwammigen Begriff “Proto-Ambient” zusammengefasst) und doch kommt man daran nicht vorbei, dass all dies von einem einzigen Künstler in einer beispiellosen Art und Weise konsolidiert und entwickelt wurde. Man kann nicht über Ambient reden, ohne über Eno zu reden.
Aus gegebenen Anlass möchte ich heute die zweite LP dieser Reihe unter die Lupe nehmen. “AMBIENT2: The Plateaux Of Mirror” ist die zweite Kooperation zwischen Brian Eno und Harold Budd, denn zwei Jahre zuvor hatten die beiden an Harold Budds Platte “The Pavilion Of Dreams” gearbeitet. Damals produzierte Eno das Album lediglich. Nun wollten beide Künstler gleichermaßen in die erschaffenen Klangwelten eingreifen.
Der Schwerpunkt des Albums liegt auf Klaviermusik. Und das Klavier ist fortan ein häufiges Element in Ambient-Produktionen. Vorzugsweise mit einem auf Anschlag gedrückten Tonhaltepedal. Als Instrument erlaubt das Piano sehr gut, eine schwebende und zugleich unaufdringliche Atmosphäre zu halten. Ambient ist kein Stil, der feste Intrumente vorschreibt. Es gibt auch keine stilistische Methodenlehre, keine harmonischen Vorschriften, die hier aufgestellt werden. Und doch, wenn man es hört, weiß man, was es ist. Und dass es sich um keine “New-Age-Musik” handelt.
“The Plateaux Of Mirror” folgt einer konkreten Arbeitsaufteilung: Harold Budd nahm einzelne Tracks auf dem Klavier auf, teilweise Improvisationen und kleine Entdeckungsreisen innerhalb festgelegter Harmonien. Daraufhin ergriff Eno den Staffelstab und begann die Musik in einen Mantel aus Sounds und Effekten zu hüllen.
Das Ergebnis ist formidabel. Und obwohl dieses Album bei mir keinen so hohen Stellenwert hat, wie die vierte LP in dieser Reihe – “On Land” –, gibt es hier großartige Momente, rätselhaft und zugleich melancholisch. Hinzu kommt, dass Ambient nicht nur an der unmittelbaren Hörerfahrung gemessen werden darf, sondern auch gewisse Qualitäten als Hintergrund-Musik bestreitet. Ein Wesenszug, an dem sich andere Musikstile kaum beteiligen möchten, gilt doch die Eignung zu einer Klangtapete ansonsten eher als ein großer Makel und kaum als ein Gütezeichen. Doch genau das macht Ambient so anders.
“AMBIENT 2: The Plateaux Of Mirror” ist eindeutig die Art von Musik, welche sich die meisten lieber im CD-Format zulegen, anstelle einer Vinyl-Scheibe. Denn bei CDs gibt es die WIEDERHOL-Taste. Und Ambient ist etwas, womit jeder experimentieren kann. Man kann ein solches Album auch mal 24 Stunden lang im Raum schweben lassen und so eine weniger unmittelbare Wirkung entfalten lassen.
Dieses Album nervt nicht mit der Einfältigkeit einer New-Age-Produktion – ja, ich weiß, ich hacke gerne auf “New Age” herum und bezeichne es allzu oft als die Musik der Gehirnweichen und jene Leute, die glauben, von Räucherstäbchen einen Rausch zu kriegen. Doch für mich ist New Age die Homöopathie der Musikwelt. Es ist eine klangliche Heuchelei, die dank ihrer Placebo-Effekte tatsächlich Fans findet.
Der Unterschied zwischen diesen benachbarten Genres ist immens! Ambient drückt sich nicht vor Melancholie und Tristesse. Und “AMBIENT 2 – The Plateaux Of Mirror” hat davon viel zu bieten. Doch es ist zugleich eine rätselhafte Melancholie, als würde Harold Budds zurückhaltendes Klavierspiel Sonden im Unterbewusstsein der Zuhörer platzieren und dort ihre individuellen Erinnerungen reaktivieren.
Ambient ist textural, atmosphärisch, anwendbar. Nicht thematisch. Da gibt es nichts zum Mitsummen. Es sind Arabesken und Muster. Akustische Möbelstücke in deiner Wohnung. Darum ist es schwierig hier über Favoriten zu sprechen, da alle zehn Kompositionen ihren eigenen Reiz haben.
Das Eponym “The Plateaux Of Mirror” ist ein enigmatisches Motiv, das Fragen an den Zuhörer richtet. Es ist eine Lektion in sanftmütiger Zurückhaltung.
“Above Chiangmai” besitzt ein hervorragendes Gleichgewicht zwischen Budds zerbrechlicher Improvisation und Enos stimmungsvollen Effektkollagen. Das Stück schwebt wie ein Vormittagsnebel über der Landschaft und löst sich langsam vor unserem geistigen Auge auf.
“Among Fields Of Crystal” arbeitet mit verhaltenen Jazz-Harmonien, die sich langsam zu einer sentimentalen Stimmung zusammenfügen.
“Wind In Lonely Fences” ist ein atmosphärisches Beispiel dafür, weshalb Ambient und New Age kaum verwechselt werden können, auch wenn Leute dies so oft durcheinanderbringen.
Musikhistorisch lässt sich anmerken, dass dieses Album einer der letzten experimentellen (oder zumindest bekannteren) Beiträge ist, die gänzlich analog aufgenommen wurden. Die Aficionados behaupten, man könne mit guten Kopfhörern an manchen Stellen das Rauschen von Brian Enos Tonbandgeräten hören.
Wie bereits der Vorgänger “AMBIENT 1: Music For Airports”, besitzt auch dieses Album ein “topographisches” Cover, das eine geographische Karte zeigt, sogar mit einem kleinen Grenzverlauf, der die unbekannte Region zerteilt.
“AMBIENT 2: The Plateaux Of Mirror” ist ein reizvoller Wurf, der Ambient-Forschern kaum unbekannt sein dürfte. Aber ich kann es jedem gut empfehlen, der in das Genre reinschnuppern und mit der subtilen emotionalen Wirkung dieser Musik experimentieren möchten. Es könnte auch die richtige Musik sein, um den eigenen Schlaf zu begleiten. Wenn es leise genug ist.
Doch nicht jeder ist ein Fan dieses Albums. Tim O’Neil von POPMATTERS schrieb einst, das Album sei unscheinbar und “absichtlich banal”. Und weiter unten wetterte er: “As with much of the unremarkable new age music that poured forth in the wake of Eno’s initial experimentation, Ambient 2 is almost entirely featureless. It is not designed to engage the listener on anything but a subconscious level. Trying to pay the music your full attention will result in nothing but frustration: nothing’s really there.”
Und in der Tat vermisst man hier die architektonische Ästhetik von “Music For Airports”, oder die progressive Tragweite von “On Land”. Aber auch Tim O’Neil erkennt die Absicht dahinter und den durchaus zu würdigenden Versuch, die Musik ihrer personalisierten Identität zu berauben, zugunsten einer akustischen Innendekoration, die damals – in 1979 – nur deshalb von den zwei Künstlern Eno und Budd aufgenommen, weil zu jenem Zeitpunkt noch nicht die Technologie zur Verfügung stand, diesen Prozess von einem Computer automatisieren zu lassen.
So schließt Tim O’Neil seine Kritik mit den verbitterten Worten: “Art should exist to define the ideas and idioms of our life, not merely as a metaphor to reflect the formless substance of our days. In pursuing art without an artist, Eno managed to create a distinctive kind of stillborn monster: one which horrifies through its absence of a face.”
Doch dies ist eine einsame Position und dieses Album ist keineswegs ein totgeborenes Monster. Viel mehr überwiegt die Überzeugung, dass wir es hier mit einem Ausnahmealbum zu tun haben.
Diese Musik ist wie geschaffen für den Orbit. Sie ist wie ein Blick durch das Fenster auf den Planeten. Insbesondere, wenn dieser Planet zugleich das Zuhause ist.
Harold Budd & Brian Eno: “AMBIENT2: The Plateaux Of Mirror” (1980, EG)
„futuristic spaceship command room“ by Luca Oleastri @ fotolia