Saša Stanišić – Herkunft (Buch)


Autobiographischer Bestseller und interaktive Drachengeschichte

Saša Stanišić-Herkunft (Buch) © Luchterhand Literaturverlag»In dem Buch werde ich mit meiner dementen Großmutter im Gebirge auf Drachenjagd gehen.« 

verspricht Saša Stanišić in einem 20 Sekunden kurzen Video zu seinem Buch „Herkunft“. Kein Wunder, dass ich es als großer Drachenfan unbedingt lesen wollte. Natürlich war mir klar, dass „Herkunft“ mitnichten ein Fantasy-Roman ist, sondern eine fiktionale Autobiographie. Es geht um Sašas Kindheit in dem sozialistischen Vielvölkerstaat Jugoslawien, den es nicht mehr gibt. Und um Fremdenfeindlichkeit gegenüber seiner Mutter als Teil der muslimischen Bevölkerung. Fremdenfeindlichkeit, die in Hass umschlägt und zu einem Bürgerkrieg und grässlichen Verbrechen an der Menschlichkeit führt. Es geht um Flucht, um versuchte Integration und erneute Vertreibung der Eltern. Um das Glück, bleiben zu dürfen, Freundschaften zu schließen und in der Schule gefördert zu werden. Vor allem geht es um den Familienstammbaum und um die Suche nach Spuren der eigenen Identität. Um Altwerden, Vergessen, Erinnern und um ein würdiges Ende für Großmutter Kristina.

„Herkunft“ ist nicht der erste autobiographische Roman von Saša Stanišić. Die Kurzgeschichte „Was wir im Keller spielen“ und sein Romandebut “Wie der Soldat das Grammofon repariert” erzählen von eigenen Erlebnissen, von einer Kindheit im Bosnienkrieg. Für „Vor dem Fest“, einem Roman über die Erinnerungen eines Dorfs in der Uckermark, erhielt der Autor den Preis der Leipziger Buchmesse 2019. Für den hier besprochenen Roman den Deutschen Buchpreis im selben Jahr. Ob zu Recht oder nicht, mögen andere beurteilen. Dazu motiviert, dieses Buch zu lesen, haben mich in einer Runde von Buchliebhabern vorgelesene Passagen wie diese:

 »Ich schrieb der Ausländerbehörde: Ich bin Jugo und habe in Deutschland trotzdem nie was geklaut, außer ein paar Bücher auf der Frankfurter Buchmesse. Und in Heidelberg bin ich mal mit einem Kanu in einem Freibad gefahren. Radierte beides aus, weil vielleicht Straftaten und noch nicht verjährt.« [S.10]

Dazu reizt es mich, über Themen wie Flucht, Migration und Identität aus der Perspektive eines Menschen zu lesen, der Zeuge des Zerfalls seiner Heimat wurde und für den die Frage „Wo kommst Du her?“ eine Herausforderung ist.

Die Suche nach dem roten Faden 

Die ersten Kapitel lassen den berühmten roten Faden vermissen. Oder vielmehr versteckt er sich unter einer Folge von Zeitsprüngen. Episoden über Sašas Geburt an einem Regentag, den Besuch des Fußballstadions von Roter Stern Belgrad als Junge und einem Ausflug mit Großmutter Kristina nach Oskoruša im Jahr 2009 wirken willkürlich gemischt. Zunächst ist keinerlei Chronologie, wie man sie in den meisten Autobiographien findet, erkennbar. Dies ist ungewohnt, tut allerdings dem Unterhaltungswert und der Tiefe des Erzähltem keinen Abbruch. Unter anderem lesen wir hier die witzigen Anschreiben an die Ausländerbehörde, die für sich die Lektüre des Buchs schon lohnen. Großmutter Kristina, die Mutter von Sašas Vater, ihr Mann Pero, aber auch die Eltern der Mutter, Nena und Muhamed, erzählen aus ihrem Leben. Schnell wird klar, dass es im ersten Teil des Buchs um familiäre Wurzeln geht, die sich jeglicher Zeiteinteilung entziehen.

Ab der Ankunft in Deutschland, beschrieben in dem Kapitel „Heidelberg“, reihen sich die weiterhin kurzen Kapitel mehr und mehr chronologisch ein. Das familiäre Leben tritt etwas in den Hintergrund, macht Platz für die Zeit der Jugend mit den Freunden an der Aral-Tankstelle und in der Internationalen Gesamtschule Heidelberg. Bis die Familie mehr und mehr zerfällt, weil die Eltern Deutschland verlassen müssen und die Großmutter immer pflegebedürftiger wird.

Die Schönheit und Aussagekraft sprachlicher Prägnanz

„In Schönheit sterben“ können vielleicht Sportmannschaften, die attraktiv spielen, allerdings die nötigen Punkte zum Sieg verpassen. Aber niemals Literatur. Eine schöne Sprache, ein origineller Stil werten jedes Buch auf. Saša Stanišić schreibt lakonisch, in kurzen Sätzen und Kapiteln, mit eigenwilligen Sprachbildern. Ein Satz wie auf dem Buchcover:

»Herkunft ist ein Abschied von meiner dementen Großmutter. Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre.«

ist bezeichnend für die Schreibe des Autors: präzise und tiefgreifend sinnbildlich. Bereits die erste Szene, in der die Großmutter ihren Namen rufend in Strümpfen auf die Straße läuft und zugleich siebenundachtzig und elf Jahre alt ist, entfaltet eine Symbiose von Prägnanz und Eleganz. Dieser Schreibstil hindert Saša Stanišić nicht daran, ausufernd zu fabulieren. Die Abschweifung erklärt der Autor sogar zum Modus seines Schreibens: das Verlieren in Details einer Landschaft, einer Inneneinrichtung oder einer kleinen Geschichte am Wegesrand.

In Kapiteln wie „Tod dem Faschismus, Freiheit dem Volke“ oder „Näher am Nordpol“ beschreibt der Autor, wie in den 80er und 90er Jahren die Stimmung in der Bevölkerung Jugoslawiens drastisch kippt. Aus wirtschaftlichen Konflikten erwachsen ethnische Ressentiments, die schließlich zu Vertreibung und ethnischen Säuberungen führen. Der Geburtsort Višegrad wird zum Schauplatz einer Massenvergewaltigung und Ermordung muslimischer Frauen. Tiefe Emotionen stechen in den Passagen über den Bosnien-Krieg hervor. Oder wenn er über die Flucht aus der Heimatstadt schreibt, und über die Angst der Mutter, wenn sie dorthin zurückkehrt. Schuldgefühle schimmern in Szenen mit Großmutter durch, in denen ihre Demenz bereits weit fortgeschritten ist. Zerrissenheit und Wut kommt in Gedanken über Nationalität und Nationalismus zum Vorschein:

»Ich sehe zum verfallenen Haus meiner Urgroßeltern und ich verstehe so vieles nicht. Nicht, wie das Knie funktioniert. Ernsthaft religiöse Menschen so wenig wie Menschen, die Geld und Hoffnung in Magie, Wettbüros, Globuli oder Hellseherei (außer Nena Mejrema) setzen. Ich verstehe das Beharren auf dem Prinzip der Nationen nicht und Menschen, die süßes Popcorn mögen. Ich verstehe nicht, dass Herkunft Eigenschaften mit sich bringen soll und verstehe nicht, dass manche bereit sind, in ihrem Namen in Schlachten zu ziehen. « [S. 284]

Mit dem Leser auf der Suche nach einem guten Ende

Am Ende lebt Großmutter Kristina im Pflegeheim und der Enkel geht mit ihr auf Drachenjagd. Oder auch nicht, je nachdem, wie die LeserInnen es wünschen. Denn in den Schlusskapiteln hat man die Wahl, mit welcher Szene man fortfahren möchte. Ein interaktives Leseerlebnis ähnlich wie beim Pen and Paper Rollenspiel, mit Kristinas Enkelsohn als Spielleiter.

Von Oscar Wilde soll jene Redensart stammen, die zu dem gewählten Ende perfekt passt:

»Everything is going to be fine in the end.
If it’s not fine, it’s not the end.«

Wir haben es in der Hand, wie wir den Abschied von Kristina gestalten wollen: phantastisch oder realistisch. Für mich passte ein Ende mit den Drachen am besten. Und nebenher lernt man ein wenig über slawische Mythologie.

Aus „Herkunft“ nimmt man vielfältige Eindrücke mit, wie Melancholie, Trauer und Unmut, auch Heiterkeit und Courage. Und die Lust darauf, mehr über Bosnien und Herzegowina zu erfahren, dessen leidvolle Geschichte in der Weltöffentlichkeit allmählich in Vergessenheit gerät. Wenn nicht gerade das Internationale Strafgericht zur Verfolgung von Verletzungen des humanitären Völkerrechts in Den Haag mal wieder einen Kriegsverbrecher aus dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien richtet. Saša Stanišić hat die Spuren seiner Herkunft nicht dies- oder jenseits von geographischen Landesgrenzen gefunden. Sondern bei den Menschen, die ihn begleiten. Bei seinen Ahnen in Bosnien, bei seiner Familie, wo immer sie sich aufhält, seinen Freunden aus Emmertsgrund in Heidelberg. Und in den verlorenen Erinnerungen und Fantasien von Großmutter Kristina.

Cover: © Luchterhand Literaturverlag

  • Autor: Saša Stanišić
  • Titel: Herkunft
  • Verlag: Luchterhand Literaturverlag
  • Erschienen: 03/2019
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 368
  • ISBN: 978-3-630-87473-9
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite
    Erwerbsmöglichkeiten

Wertung: 13/15 Slawische Drachen


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