Vielschichtiger Spionagethriller
1992, Connecticut. Am Ende einer Sackgasse lebt Marie Mitchell mit ihren kleinen Zwillingssöhnen Tommy und William. Eines nachts hört sie auf dem Gang eine Diele knarren, kurz darauf erschießt sie den Einbrecher, der sie offensichtlich töten wollte. Marie wird klar, dass sie von ihrer Vergangenheit eingeholt wird und flieht mit ihren Kindern auf die Insel Martinique zu ihrer Mutter Agathe.
“Das Problem ist ja nicht nur, dass ich eine Frau bin. Ich bin auch noch schwarz. Da steht’s schon mal zwei zu null gegen mich.”
Fünf Jahre zuvor. Marie arbeitet seit 1983 beim FBI, ist hoch intelligent und die einzige schwarze Frau in einem weißen Männerclub. Bisher war langweiliger Papierkram angesagt oder das Anwerben von vermeintlichen Informanten wie die junge Aisha, von der sie Informationen über die PLC, die Patrice Lumumba Coalition, erhält, eine panafrikanische Bewegung aus Harlem. Doch jetzt, 1987, erhält sie die Chance, endlich ein SAC, ein Special Agent in Charge, zu werden. Ein Mitarbeiter der CIA will sie offenbar als “Honigfalle” auf den Präsidenten von Burkina Faso, Thomas Shankara, ansetzen. Der hochbeliebte Anführer einer kommunistischen
Einparteienregierung soll durch eine Mehrparteienwahl gestürzt werden; eine Gegenpartei mit einem der CIA nahestehenden Kandidaten wird bereits massiv unterstützt. Marie billigt in die Mission ein, will endlich zeigen, was sie kann. Außerdem gibt es in Burkina Faso ein Wiedersehen mit Daniel Slater, dem Freund ihrer vor Jahren verstorbenen Schwester Helene. Das Verhältnis der Schwestern war nicht immer das Beste und so erhofft sie sich von Slater hierzu Antworten. Doch dann kommt alles ganz anders und Maries Welt gerät aus den Fugen.
Schwesternliebe, Kalter Krieg und Erinnerung an den “Che Guevara Afrikas”
“American Spy” ist der beeindruckende Debütroman von Lauren Wilkinson, welcher hauptsächlich 1987 und 1992 spielt. Der amerikanische Präsident heißt Ronald Reagan, der Kalte Krieg ist immer noch real und wird zunehmend in Afrika als Stellvertreterkrieg zwischen Russland und Amerika ausgetragen. So wird verständlich, dass ein marxistischer Anführer einer kommunistischen Regierung wie Thomas Shankara, der “Che Guevara Afrikas”, den Amerikanern ein Dorn im Auge sein muss und gestürzt werden soll. Dessen kurze Regentschaft bildet den zeithistorischen Hintergrund des Romans, wobei er durch Marie Mitchell eine zusätzliche Note erfährt. Marie lernt Shankara bei einem Auftritt vor der UNO in New York kennen und fühlt sich von dem charismatischen Präsidenten angezogen, ohne dass der Roman anschließend zu einer Liebesgeschichte abdriftet.
Fred Hampton, Bunchy Carter, Anna Mae Aquash – alle gehören zu Organisationen, deren Infiltrierung von der Regierung damit gerechtfertigt wurde, sie seien Kommunisten und Staatsfeinde. Alle waren US-amerikanische Staatsbürger, die ermordet wurden, nachdem sich jemand wie ich vom FBI eingemischt hatte.
Lauren Wilkinson sind andere Motive wichtiger. Imperialismus und Rassismus zum Beispiel. Die Ausbeutung afrikanischer Staaten durch westliche Staaten wie Amerika und Frankreich wird thematisiert, ebenso der in Amerika grassierende Rassismus, der bekanntlich nach wie vor hoch aktuell ist. Dass es nur eine schwarze Frau im FBI gibt sagt schon viel, dass sie bei Einsätzen außen vor bleibt noch mehr. Die Atmosphäre der damaligen Zeit wird großartig eingefangen, ebenso die politischen Verhältnisse in Burkina Faso.
“Wieso ist er denn Polizist geworden?”
“Die Frage höre ich ständig. Wenn er weiß wäre, würde ihn dass niemand fragen.”
“Natürlich nicht. Aber das Rechtssystem in Ihrem Land macht nun mal Unterschiede, was die Hautfarbe angeht, und wird ja oft genug benutzt, um die schwarze Bevölkerung zu unterdrücken. Da drängt sich schon die Frage auf, wie ein Schwarzer auf die Idee kommt, genau dieses Rechtssystem zu unterstützen.”
Nicht zuletzt ist “American Spy” ein großer Familienroman, denn die wichtigsten Personen in Maries Leben sind vor allem ihre Schwester Helene sowie die Eltern. Zu allen drei Personen hat Marie ein höchst ambivalentes Verhältnis. Die Mutter verlässt die Familie sehr früh, der Vater behandelt sie von oben herab und Helene dreht ihr eigenes Ding und wendet sich ebenfalls zeitweise von Marie ab. Das angespannte Beziehungsgeflecht beherrscht weite Teile des ersten Drittels und bietet auch im weiteren Verlauf einige Längen.
Action ist hier übrigens nicht angesagt. Wie der Titel schon vorwegnimmt, handelt es sich um einen Spionageroman. Was ist Lüge, was Wahrheit? Wer ist Freund, wer Feind? Wer infiltriert hier wen und warum? Wie lautet der wahre Auftrag für Marie und welches Geheimnis verbirgt Slater? Als Marie entdeckt, wer im amerikanischen Auftrag den Sturz Shankaras durchziehen soll, ist sie schockiert. Klar wird, dass sie eine Entscheidung treffen und danach die Flucht ergreifen muss. John Le Carré dürfte wahre Freude an dem Roman haben, welcher ein rund 360-Seiten langer Brief von Marie an ihre beiden Söhne ist. Sie sollen verstehen, was und warum sie es getan hat … und vieles mehr. Großes Kino!
Cover © Klett-Cotta
- Autor: Lauren Wilkinson
- Titel: American Spy
- Originaltitel: American Spy
- Übersetzer: Jenny Merling, Antje Althans, Anne Emmert und Katrin Harlass
- Verlag: Tropen
- Erschienen: 07/2020
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 366
- ISBN: 978-3-608-50464-4
- Sonstige Informationen:
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