Drei Jahre nach dem hervorragenden “Nichts bleibt” erscheint mit “Die wir liebten” Willi Achtens neuer Roman. War “Nichts bleibt” ein durchdachter, faszinierender und existenzialistischer Noir um eine aus Verzweiflung geborene Rache, ist “Die wir liebten” eine Zeitreise in die Siebziger, die von lichten, anrührenden Momenten bis in tiefe Finsternis führt. Ein Dunkel, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart spürbar sind, um dort ihr zerstörerisches Haupt zu erheben. Immer noch.
Roman und sein jüngerer Bruder Edgar, der als Erzähler fungiert, leben 1971 nahe Mönchengladbachs in der westdeutschen Provinz. Der Vater ist Bäcker, die Mutter betreibt einen Kiosk mit einer Lottoannahmestelle. Im Familienhaushalt leben noch die Großmutter, die demenzkranke Großtante Mia (sie leidet an “Verkalkung” wie es früher lapidar hieß) und die beiden Bäckergesellen Günther und Leonhard, ein Vetter der Großmutter.
Kein harmonisches Familienleben, aber ein intaktes, mit den üblichen Reibungen, Problemen und schönen Momenten.
Roman ist ein charismatischer, willensstarker Jugendlicher, immer im Kampf mit den Ungerechtigkeiten dieser Welt. Sein zaghafterer jüngerer Bruder Edgar idealisiert ihn und folgt ihm treu. Auch in die Kämpfe und Aktionen, die nicht schadenfrei bleiben. Obwohl jede Aktivität der Brüder einen nachvollziehbaren Hintergrund besitzt, geraten sie ins Visier der Behörden. Dem Dorfpolizisten Buhnke sind Beiden ein Dorn im Auge, in seinem Schlepptau agiert die harsche Jugendamtsmitarbeiterin Schneidewind zerstörerisch. Vorerst jedoch bleibt der “Gnadenhof” ein Heim für “schwererziehbare” Jungen, unweit des Dorfes, ein bedrohliches Schemen im Hintergrund.
Stattdessen kleine Abenteuer und Scharmützel, ein aufreibendes Familienleben, erste Liebe und die Entdeckung der Rockmusik. Doch dann verguckt sich der Vater in die örtliche Tierärztin, die im gesamten Text ein weiterer Schatten bleibt; die Großmutter erkrankt an Krebs und Tante Mia soll aus der familiären Obhut gerissen werden. Die Situation eskaliert, Buhnke und Schneidewind sorgen dafür, dass Roman und Edgar im Gnadenhof landen. Die Eltern, nicht mehr zusammenwohnend, aber wohlvorhanden, werden ignoriert. Vom selbstbestimmten Paradies mit Widerhaken geht es ohne Umschweife in die fremdbestimmte Hölle.
Obwohl die Gnadenhof-Episode nur ein gutes Viertel des Buchs ausmacht, prägt die Intensität der Schilderung, der Spannungszustand zwischen absoluter Ohnmacht und dem Aufbegehren gegen Gewalt und Unterdrückung, den gesamten Text. Achten lässt seine Protagonisten in eine Parallelwelt des andauernden Horrors eintauchen, deren Präsenz so nachhaltig wirkt, weil die Seiten zuvor so voller Zärtlichkeit, Wildheit, Nachdenklichkeit und Mitmenschlichkeit waren. Edgar und Roman versuchen verzweifelt die Familie zusammenzuhalten, kümmern sich rührend um ihre immer alkoholabhängiger werdende Mutter und kämpfen ihre eigenen kleinen Gefechte, ideelle wie reale. Es ist bei weitem keine perfekte Welt, aber eine, die Möglichkeiten beinhaltet, Lebensfreude, Veränderungen gar und Hoffnung. Im faschistoiden Gnadenhof gibt es nichts davon.
Gab es eine Welt neben der Welt?
Dass die sogenannte “Entnazifizierung” bestenfalls Alibifunktion hatte, wird schon im ersten Teil von “Die wir liebten” deutlich. Am deutlichsten sichtbar beim verhassten Wachtmeister Buhnke, der ansatzlos vom faschistischen Büttel in den Dienst der bundesdeutschen Polizei wechselte. Und dies, obwohl er nachweislich an der Ermordung einer Gruppe internierter russischer Frauen beteiligt war. Ausreden, Selbststilisierung zum Opfer übler Zeiten, den kalten Krieg vor Augen, beließ man es bei einer freundlichen Ermahnung und einer Einstufung als “Mitläufer”. Buhnke kam ungeschoren davon, wie so viele andere Täter, von denen weit Schlimmere hofiert wurden, nicht nur von zahlreichen Vertretern der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft. Bollwerke gegen die ‚rote Gefahr‘ aus dem Osten, gern eingesetzte Aufbauhelfer für Recht und Ordnung, in einer jungen Republik, die auf dem rechten Auge blind ist, weil der wahre Feind links verortet wird.
Der Polizist liefert Edgar und Roman in einer Erziehungsanstalt ab, die ein wahres Refugium für unverbesserliche Nazis ist, tatkräftig unterstützt von der gnadenlosen “Schwester” Agnes. Ein Arzt, der bedenkenlos Medikamente an Kindern testet, mit besonderem Dank der jeweiligen Pharmareferenten; Handlanger, die hilfsbedürftige Kinder barbarisch sinnlose Arbeit verrichten lassen, ein ehemaliger Direktor, der demenzkrank von seligen Zeiten palavert, in denen zwischen lebenswertem und -unwertem Leben unterschieden und entsprechend euthanisiert wurde. Und der aktuelle Heimleiter Dr. Marcus, der sich verständnisvoll gibt, aber seine Kenntnis in Psychologie gegen jene einsetzt, die er eigentlich schützen sollte. Zynischer Höhepunkt der perfiden Täuschungsmanöver: Ein Kongress, auf dem der perfideste Betreiber schwarzer Pädagogik über deren Schattenseiten referieren soll.
Da ist bereits ein Jugendlicher gestorben, ein weiterer Aufsässiger mittels Folter und Medikamenten gebrochen und Roman und Edgar planen den Ausbruch.
Nach außen wird das marode System zerfallen, ohne schwerwiegende Folgen für die Dienstleister in Schmerzen und Tod. SPOILER: Immerhin gelingt die Flucht, der angepasstere Edgar wird ein geregeltes Leben, mit schmerzhaften Einschnitten und Erinnerungsschocks, führen, während Roman unbehaust bleibt, immer auf der Flucht. Oder der Jagd. SPOILER Ende.
Mitte der Siebziger Zustände, die zwischen Mittelalter und faschistischer Diktatur changieren? Das mag wie phantasiereicher Horrer wirken, doch wer mit Zeitzeugen spricht, wird ähnliche Geschichten zuhauf zu hören bekommen. Von Lehrern, die sehnsuchtsvoll gen 1933 blicken und im klassischen Front(al)unterricht den Bambusstock kreisen lassen, während Prügelstrafe an Schulen offiziell nicht mehr existierte, von Eltern, die überzeugt sind, dass der bundesdeutsche Staat ohne Mithilfe bekennender Nationalsozialisten in verantwortlichen Posten, seinen Wirtschaftsaufschwung verpasst hätte, von Politikern, die verteidigen, dass viele Reglements, bis hin zur Rechtsprechung, auf den Postulaten des Dritten Reichs beruhen.
Es sind fest implementierte Seilschaften, die sich gegenseitig befeuern und Deckung geben. Willi Achten beschreibt höchst eindringlich wie ein menschenverachtendes System im abgeschotteten Raum funktioniert. Dass es überhaupt existiert, liegt daran, dass es von übergeordneten Stellen und einer Art stillschweigend vorausgesetztem gesellschaftlichen Konsens mitgetragen wird.
Der Roman lotet die Grenzen des Schreckens aus, wenn aus alten Akten zitiert wird, über “nicht dressierfähige Kinder”, es wird von “bildungsuntauglich, völlig verblödet, kann nur im Bett gehalten werden” geschwafelt und zum desolaten Schluss wird “kein Schmerzempfinden” attestiert. Medizin ohne jede Ethik, für die es keine schützens- und behandelswerten Patienten gibt, sondern nur Material für Experimente oder Euthanasie-Empfehlungen.
“Die wir liebten” ist ein Coming Of Age-Roman, der voller poetischer Kraft von den vielen Facetten des Erwachsenwerdens erzählt. Voller Witz, Traurigkeit und Dramatik, die allem Alltäglichen innewohnt. Kleine Abenteuer, große Fluchten, Liebe und Verantwortungsbewusstsein, der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben voller Wahlmöglichkeiten. Eine überschaubare Welt der scheinbaren Freiheit, die zerbröselt, sobald die repressive, missgünstige Realität das machtvolle Zepter führt. Dann wandelt sich der Ton des Romans ins finster Schwarze, wird zum Horror. Der sich nicht aus der Phantastik speist, sondern aus der Wirklichkeit. Ein Lesehighlight gleich zum Jahresbeginn!
Wenn sich die Welt verkehrt in ein Verlies aus Schauern,
In dem die Hoffnung, nur noch eine Fledermausgestalt,
Mit scheuem Fittich anklopft gegen feuchte Mauern
Und mit dem Kopf an durchgefaulte Decken prallt
[Charles Baudelaire, “Spleen”, übersetzt von Simon Werle]
Cover © Piper
- Autor: Willi Achten
- Titel: Die wir liebten
- Verlag: Piper
- Erschienen: 03/2020
- Einband: Hardcover
- Seiten: 379
- ISBN: 978-3-492-05994-7
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 13/15 große Songs der Siebziger