Betritt eine zerschundene junge Frau ein Polizeirevier. Ein Firmengebäude, das vorgibt ein Polizeirevier zu sein. Sie zieht sich aus dem Getränkeautomaten neben der Tür eine Splish-Cola (Erläuterungen dazu gibt es in der umfangreichen Bonussektion). Redet auf Spanisch mit dem Schalterbeamten, der ignorant seiner Arbeit weiterhin nachgeht. Bis die Worte, mit viel Hall und Nachdruck ausgestoßen, eine machtvolle Präsenz erreichen, der sich nicht einmal ein Staatsbeamter verschließen kann.
Sitzt ein Mann in einer Bar und trinkt Cocktails. In einem schäbigen, betonierten Kellerraum, der so tut als wäre er eine Bar. Eine rätselhafte Frau fragt, ob er Arzt sei, da er dauernd auf seinen altertümlichen Pieper schaut. Er ist es: Dr. Rossini, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Frau namens Nora Vanderkort setzt sich zu ihm und erzählt ihm die Geschichte ihrer Jugendfreundin Luz, die sie während ihrer Zeit in einem katholischen Mädcheninternat in Chile kennengelernt hat. Sie beschreibt Luz als manipulatives Teen mit medialen Fähigkeiten. Die von verdorbenem Fisch redet, worauf dem gesamten Internat übel wird, von Beschwörungen, geheimen Riten, erwachender Sexualität und Tod. Irgendwann verschwindet Luz aus dem Internat. Nora verliert sie aus den Augen. Bis jetzt.
Luz arbeitet – “vorübergehend” – als Taxifahrerin in Deutschland. Nach ihrer Rückkehr aus Kolumbien(?) wird Nora Vanderkort zufällig (??) ihr Fahrgast. Bis Luz während der Fahrt aus dem Taxi springt. Und in der Anfangssequenz landet. Kurz danach nähert sich Kommissarin Bertillon mit ihrem spanischsprechenden Kollegen Olarte aus der Technikabteilung, und versucht Luz ihre Geschichte zu entlocken. “Ich habe in der Schule erzählt, ich wolle Nonne werden”, entgegnet Luz, “um bessere Noten zu bekommen. Wollten sie schon immer Polizistin werden?”
Dr. Rossini und Nora füllen sich mit Bier und Mixgetränken von ungesunder Farbe ab, ergänzen das kleine Besäufnis um Pillen und Pulver. Im Hintergrund läuft ein spanischer Werbeclip für Splish-Cola (trägt zur Filmfinanzierung bei). Später kommt es zu einem grotesken Handjob auf der Toilette. Nora gibt dem Doktor einen Kuss aus Licht und kippt um. Rossini wird zur Arbeit gerufen, um Kommissarin Bertillon bei einem Verhör zu helfen. Die Befragte ist natürlich Luz.
Wir erleben: Eine Rekapitulation unter Hypnose, als Mixtur aus Theateraufführung und Familienaufstellung, Identitätswechsel, einen verängstigten Tontechniker, eine Kommissarin mit Riesenholster und kleiner Pistole, Nebel im Seminarraum, der sinnlos von Schüssen zerteilt wird. Fallende Stühle, eine nackte Frau, einen nackten Arzt, eine weitere Kussszene und ein Ende, das wie der zurückgespulte Anfang aussieht. Von ein paar Veränderungen im Detail abgesehen. Der Getränkeautomat existiert noch. Unbeeindruckt davon, wie auch der stoische Pförtner, dass vielleicht gerade ein Dämon in die Welt hinausmarschiert.
“Luz” ist der Abschlussfilm von Tilman Singer und Dario Méndez Acosta an der Kunsthochschule für Medien Köln. Ihr erster Langfilm, der mit 70 Minuten Spielzeit nicht ausufernd, aber lang genug geraten ist. Die beiden zuvor entstandenen kurzen Werke “The Events at Mr. Yamamoto’s Alpine Residence” (2014, 10 Min) und “El Fin Del Mundo” (ebenfalls 2014, 17 Min.) befinden sich unter dem Bonusmaterial.
“Luz” sieht ein wenig so aus, als hätten begabte Eleven Rainer Werner Fassbinders und David Lynchs versucht, den “Exorzist” als Liebesgeschichte zu inszenieren. Ohne Exorzisten. Im Gegenteil, Dr. Rossini treibt nicht aus, er befördert hinein. Von Fassbinder hat der Film seine beinahe theatralische Statik und die Verfremdungseffekte, von Lynch die atmosphärische Inszenierung von Räumen als handlungstragenden Elementen. Doch Singer und Acosta sind keine Kopisten, sie arbeiten mit eigenen Mitteln. So agiert Julia Riedler (Nora) in der Barszene, als wäre sie ansatzlos von einem Loriot-Sketch in einen Horrorfilm geswitcht. Das gelingt ihr hervorragend, die Begegnung mit Jan Bluthardt alias Dr. Rossini ist ungemein witzig und bewusst irritierend. Später gibt es einen Abstecher nach Lynchworld, wenn sich am Ende eines Ganges, der langsam von der Kamera abgetastet wird, ein Radiator befindet. Doch wohnt keine kleine, singende Frau mit dicken Backen dahinter, sondern es steht nur ein mobiler Heizkörper im Flur.
Tilman Singer lässt Oberflächen wirken, markiert sie mit kleinen Verweisen und Gags (chinesische Türbeschriftung) und schafft ein irreales Ambiente, das weder zeit- noch räumlich genau zugeordnet werden kann. Ginge es nach Kommissarin Bertillons monströsem Pistolenhalfter, befänden wir uns Anfang der Siebziger in den USA. Die Kellerbar hingegen sieht nach Berliner Impro-Schuppen Mitte der Neunziger aus. “Luz” nutzt mit seinen bescheidenen Mitteln die Möglichkeit des Kinos, Raum und Zeit als phantastisches Areal zu formen. Unterstützt von Simon Waskows exzellentem Soundtrack mit seinen Störgeräuschen, den beunruhigend brodelnden Synthesizern und den Dark-Jazz-Momenten mit Saxophon.
“Luz” verweigert sich einer geläufigen Spannungsdramaturgie nicht komplett, es gibt immerhin einen (unbeholfenen) Jump Scare, bleibt in deren Anwendung aber sperrig und hält das Publikum auf Distanz. So wird die Taxifahrt, die zum Unfall führt als eine Art Laientheater mit Klappstühlen im Seminarraum nachgespielt. Perspektiven verschieben sich, kippen und Menschen irren orientierungslos herum. Ein bisschen Blut fließt, doch der größte Teil der ausgeübten Gewalt geht von der Psyche aus, gemeuchelt und gemetzelt wird an keiner Stelle.
Bleibt noch der Dämon, der um die halbe Welt reist, um seine Julia zu finden und zu besetzen. Ein kleines, manipulatives Licht, dessen Pläne im Dunkeln bleiben. Warum er sich allerdings ausgerechnet “Luz” als Ziel der Begierde ausgesucht hat, ist rätselhaft. Es mag zwar konsequent sein, die junge Frau als Rotzgöre mit umgedrehtem Baseballcap darzustellen (ein weiterer Sprung in die Neunziger), doch Luana Velis agiert blass und wenig charismatisch in der Titelrolle. Für ambitionierte Dämonen wären Nora und selbst die taffe Bertillon interessantere Love-Interests gewesen. Hier schwächelt “Luz”, weil die Figur zwar Potenzial andeutet, sich letztlich aber in hölzernen Posen verliert.
Trotz dieses Mankos ist “Luz” ein kleines Faszinosum, das nicht auf Anhieb gefangen nimmt, aber selbst bei mehrfacher Sichtung nicht langweilt, eher dazu gewinnt. Das hat seinen Reiz; ob man ihm verfällt oder ihn in seiner gewollten Abstraktion eher lächerlich als überzeugend und vereinnahmend findet, liegt wie so oft, im Auge und Hirn der Betrachter. Ob Low-Budget-Meisterwerk oder eine leere Hülle (wenn sie nicht gerade einen Dämon beherbergt) – vielleicht ist mitunter das Vorgaukeln von Bedeutung die Bedeutung selbst. “Luz” lässt die Wahlfreiheit. Und das ist gut.
Cover und Fotos © Bildstörung
- Titel: Luz
- Produktionsland und -jahr: Deutschland 2018
- Genre:
Midnight Movie, Horor, Mystery, Kunstfilm
- Erschienen: 27.09.2019
- Label: Bildstörung
- Spielzeit:
Ca. 70 Minuten (DVD), ca. 70 Minuten (Blu-Ray) - Darsteller:
Jan Bluthardt,
Julia Riedler
Luana Velis
Nadja Stübiger
Johannes Benecke
Lilli Lorenz - Regie: Tilman Singer
- Drehbuch: Tilman Singer
- Kamera: Rafael Corkidi
- Production Design: Dario Mendez Acosta
- Musik: Simon Waskow
- Extras:
– Audiokommentar mit Regisseur Tilman Singer & Production Designer Dario Mendez Acosta
– Kurzfilm ‚The Events at Mr. Yamamoto’s Alpine Residence’ (2014, 10 Min.)
– Kurzfilm ‚El Fin Del Mundo’ (2014, 17 Min.)
– Making of (70 Min.)
– Trailer
– Booklet mit einem Text von Ariel Esteban Cayer
– Soundtrack-CD (exklusiv in der Limited Edition über den Bildstörung-Online-Shop) - Technische Details (DVD)
Video: 1,33:1 – 1080p
Sprachen/Ton: Deutsch (Dolby Digital 5.1), Spanisch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: D
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 1920x1080p (2.35:1) @23,976 Hz
Sprachen/Ton: Deutsch DTS-HD MA 5.1, Spanisch DTS-HD MA 5.1
Untertitel: D
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 10 verliebte Dämonen